Sommerhighlights

Neu im Kino KW 32 (DE)

alcarras, carla simon
Alcarràs – Die letzte Ernte, 2022, Carla Simón

Spannender Alien-Horror („Nope“), herzzerreißendes Goldbären-Highlight („Alcarràs“), erstaunliches Körperbewusstsein („Grand Jeté“) und eine sentimentale Reise („The Last Bus“): eine Auswahl des überraschend dichten Neustartangebots der Woche.

Die größte Aufmerksamkeit unter den Titeln dieser Woche dürfte dem lang erwarteten dritten Film von Jordan Peele zuteil werden; in der Tat legt der nach Get Out (2017) und Us (2019) mit Nope, neuerlich nach eigenem Drehbuch inszeniert, ein weiteres wunderbares Beispiel vor für das, was sich gewinnen lässt, wenn einer etwas wagt.

Mit der Zuordnung zu einem bestimmten Genre hält Nope sich gar nicht erst auf. Trägt stattdessen Elemente aus Science-Fiction, Horror und Satire in einem Western-Setting zusammen, tut den ein oder anderen abstrusen Einfall dazu, jagt alles durch den Mixer und wirft das Resultat mit epischer Geste auf die ganz große Leinwand, dabei eine beträchtliche Dosis ästhetischer Energie auf kunstvolle Bildgestaltung verwendend.

Worum es geht? Ist es nicht seltsam, dass die mächtige Wolke direkt über dem Hügelzug, der den so täuschend freundlich benannten Agua Dulce Canyon begrenzt, sich nicht und nicht bewegt? Fragt sich der stoische OJ Haywood und fragt sich bald auch dessen temperamental völlig konträr veranlagte Schwester Em, die dort gemeinsam eine Filmpferde-Ranch betreiben. Gleichso und noch so einiges anderes fragen sich die Zuschauer:innen; und Peele lässt sich nicht lumpen und gibt ihnen die eine oder andere Nuss zu knacken sowie allerhand zu bedenken.

Das Motiv des Spektakels zieht sich auf mehreren Ebenen und in vielfacher Gestalt durch die wilde Handlung. Vom amoklaufenden Schimpansen bis zum himmelfahrenden Schimmel, vom Alien mit Verdauungsstörungen bis zum aufgeblasenen Cowboy, der zum Showdown einschwebt. Und es ist nicht die geringste Erkenntnis, die sich aus Nope mitnehmen lässt, dass zum Spektakel die Zähmung gehört, der wiederum die Gefahr der Annäherung vorauszugehen hat. Indem er die Annäherung mit fotografischen Apparaten jener mit Waffen gleichkommen lässt, wodurch noch das Abbild des Spektakels selbst wieder ein Spektakel wird, setzt Peele noch eins drauf. Willkommen im Film! (Hier unsere weiterführende Kritik)

Heimliches Highlight der Woche ist der diesjährige Gewinner des goldenen Berlinale-Bären: Alcarràs von Carla Simón schildert das wahrscheinlich letzte Jahr jener Pfirsichplantage, die Familie Solés im titelgebenden kleinen Ort in Katalonien unterhält. Die Bäume sollen Solarpaneelen weichen, denn die Landwirtschaft wirft nicht mehr genug ab, jedenfalls nicht für Familienbetriebe.

Am Beispiel eines Drei-Generationen-Bauernhaushalts in Alcarràs, der sich mit dem Ende seiner traditionellen Lebensweise konfrontiert sieht, dröselt Simón einige grundsätzliche Probleme der spanischen Gegenwartsgesellschaft auf: das nach wie vor quasi-feudalistische System von Großgrundbesitzern und pachtenden Kleinbauern; die skandalöse Agrarpolitik, die mit Dumping-Preisen kleinen Betrieben das Überleben unmöglich macht; Solarpaneele, die Kulturlandschaften vernichten; Familienbande, die den rasanten Veränderungen nicht mehr standhalten. Und wie schon für ihr Debüt Sommer 1993 (ausgezeichnet bei der Berlinale 2017) greift die katalonische Regisseurin auch für ihren zweiten Langfilm auf autobiografische Erfahrungen zurück: In Alcarràs bauen ihre Onkel Pfirsiche an und pflegt die große Sippe der Simóns sich sommers und zur Weihnachtszeit zusammenzufinden.

Und wenngleich auch nicht mit Mitgliedern der eigenen Familie besetzt, so sind es doch Laien-Darsteller:innen, die dem Leben der Solés und der Arbeit auf der Finca die authentische Anmutung verleihen. Dergestalt, dass nachzuvollziehen leicht fällt, was hier eigentlich auf dem Spiel steht, und dass kein Goldener Bär dieser Welt diesen Verlust in Alcarràs jemals wird wett machen können; es will einem schier das Herz zerreißen.

Für ihre Karriere hat sie alles aufgegeben; sie ist als Tänzerin in die Welt gegangen und hat den Sohn bei der Mutter gelassen. Doch jetzt, da ihr Körper nicht mehr kann, kommt Nadja zurück und will Kontakt aufnehmen, will eine Beziehung zu Mario, der mittlerweile fast schon erwachsen ist. Und wie die Mutter arbeitet auch der Sohn an seinem Körper, jobbt zudem in einem Fitness-Studio, und über ihre Körper nähern sich die beiden Entfremdeten einander an. Die Körper sind zudem unbekümmert um gesellschaftliche Tabus und soziale Sanktionen; „Inzest“ – was soll das schon sein, wenn der eine in der anderen die Disziplin und die Zähigkeit, die Kraft und die Ausdauer bewundert?

Mit Grand Jeté adaptiert die 1963 in München geborene Isabelle Stever Anke Stellings 2017 erschienenen Roman „Fürsorge“ und fügt damit ihrem kleinen feinen Werk – darunter Glückliche Fügung (2010) und Das Wetter in geschlossenen Räumen (2015) – eine weitere herausfordernde Arbeit hinzu.

Denn so wie die Körper sich nicht um das Tabu scheren, so schert sich Stever nicht um Absicherung, Erklärung, Kontextualisierung; sie fokussiert vielmehr aufs Faktische und entwickelt daraus einen Reflexionsraum, der zugleich Freiraum ist. Die inszenatorische Haltung, die Grand Jeté bestimmt, ist eine der Distanz, aus der heraus Erkenntnis möglich wird: über das Bewusstsein der Körper, über die bezwingende Macht ihres Begehrens, über die ungeheure Lust an der Kontrolle und – nicht zuletzt – über die Erlösung des Kontrollverlusts. Es ist ein erstaunlicher Film, der dem Stummen Stimme verleiht, das Verschwiegene in Worte fasst, in Zungen Wahrheit spricht.

Nach dem Tod seiner Frau Mary macht sich Tom auf den Weg von John O’Groats, hoch oben im Nordosten Schottlands, nach Land’s End in Cornwall in Englands Südwesten. Dort hatten die beiden einander einst kennen- und liebengelernt, dort hat ihr junges Glück allerdings auch einen schweren Schicksalsschlag erlitten. Und doch, einmal noch hatte Mary in die alte Heimat zurückkehren wollen; und nun erfüllt ihr eben Tom auf seinen eigenen letzten Metern diesen letzten Wunsch. Es ist ein buchstäbliches Angehen gegen den Tod, und doch ist es auch eine schöne Liebesgeschichte. Passend lautet der Titel des in Rede stehenden Films des schottischen Regisseurs Gillies MacKinnon im englischen Original The Last Bus (Der Engländer, der in den Bus stieg und bis ans Ende der Welt fuhr). Denn der Clou an der 838 Meilen weiten Reise ist, dass sie in öffentlichen Bussen vonstatten geht, die der alte Herr mit seinem Rentnerticket umsonst nutzen kann. Und so ist The Last Bus ein entschleunigtes Roadmovie, eine „Sentimental Journey“, ein Panoramaschwenk über die vielfältigen Landschaften Großbritanniens und seine bunte Bevölkerung, eine Liebesgeschichte in wehmütigen Erinnerungen, vor allem aber: eine Timothy-Spall-One-Man-Show – und als solche unbedingt sehenswert. Mit Präzision und Virtuosität macht er aus einer durchaus auch ein wenig skurril anmutenden Figur eine übers Land ziehende freundliche Seele, die Menschen einander näher und das Gute in ihnen zum Vorschein bringt. Allein durch seine Anwesenheit wird der Autobus zur Nuss-Schale, in der Empathie wächst. Denn wer nebeneinander sitzt, der kann sich auch einander zuwenden; alles was es dazu braucht, ist, sich ein klein wenig zur Seite zu drehen.