Das Kino ist die vielfältigste Kunstform, immer noch. Die Kinostarts der Woche beweisen es: Von „Memoria“ zu Dr. Strange im verrückten Multiverse, von Susan Sontag bis „Nawalny“, von iranischem Kinderkino bis zu einem Western im bayerischen Dialekt.
As slow as possible: Apichatpong Weerasethakul hat in seinem neuen Film Memoria wieder äußerst sanfte, unterschwellig gespannte, bedeutungsoffene Bilder konstruiert, die Szenen gedehnt und in einen äußerst losen Plot-Zusammenhang gebracht. Der Film handelt, vielleicht, von Erinnerung, eigentlich aber von dem traumartigen Zustand der Figuren, die in der Welt sind, aber irgendwie auch nicht, nicht mehr. Zuschauerin und Zuschauer geht es während des Schauens ähnlich, zumindest wenn sie sich in die freischwebende Aufmerksamkeit fallen lassen können, die nötig ist, um diese Bilder angemessen prozessieren zu können. Dem Rezensenten von Tag24.de ist es nicht gelungen: „Nur, wer mit solchen schnarchigen Dramen [gemeint sind Terrence Malicks The Tree of Life und Lars von Triers Melancholia] etwas anfangen kann, wird auch mit Memoria seinen Spaß haben können. Alle anderen dürfte der Film schnell verlieren. Ihn aufmerksam zu verfolgen, ist aufgrund des unsäglich schleppenden Erzähltempos wahrlich eine große Herausforderung, die nur sehr, sehr geduldige Menschen meistern dürften.“ Unsere Kritik kann dabei helfen, das Slow Cinema als das zu verstehen, was es ist: eine Haltung zur Welt.
Wer bei Einstellungen, die länger als zehn Sekunden äußerlich unbewegt bleiben, einschläft, präferiert bestimmt Doctor Strange in the Multiverse of Madness – der seit seinen drei Spiderman-Filmen erste Ausflug von Regisseur Sam Raimi ins Marvel-Universum, also seit 15 Jahren. Raimi, der auch dicke Studioproduktionen routiniert mit einer eigenen, sozusagen über die Maßgaben von Blockbuster-Inszenierungen hinausschießenden Handschrift versehen kann, scheint sich auch trotz Franchise-Logik und FSK-12-Altersbeschränkung wieder ausgetobt zu haben.
Eine Durchsicht der ersten Kommentare aus dem (neuerdings wegen eines wahnwitzigen Käufers in die Schlagzeilen geratenen) Twitter-Multiverse lässt sich mit „the weirdest, grossest Marvel movie yet“ zusammenfassen. Kann man also auch, wenn man dem MCU ansonsten desinteressiert gegenübersteht, mal probieren.
Aus dem Multiverse in die Realität eines Dokumentarfilms, der politisch Stellung bezieht: 2020 wird der russische Oppositionelle Alexej Nawalny vergiftet. Er überlebt den Anschlag und geht zurück nach Russland, wo er heute im Gefängnis sitzt. Nawalny hat den Kampf gegen Korruption und gegen die Regierung Putins mit russischem Nationalismus verbunden und ist einer der wirkmächtigsten Kreml-Gegner. Der Film Nawalny erzählt nicht mehr, als man aus der Berichterstattung zu Nawalny und vor allem zu dem Giftanschlag schon wissen kann. Aber Regisseur Daniel Roher schneidet sein Material – Interviews und Archiv-Aufnahmen – so rasant aneinander, dass sich Nawalny wie ein Polit-Thriller weggucken lässt.
Wesentlich spartanischer und reflexiver ist der Dokumentarfilm Als Susan Sontag im Publikum saß, der eine Podiumsdiskussion aus dem Jahre 1971 in der New Yorker Manhattan Town Hall nicht dokumentiert, sondern sozusagen nachspielt, in Form einer szenischen Lesung. Wenn das also ein Dokumentarfilm ist, dokumentiert er diese szenische Lesung. Es diskutierten damals Germaine Greer, Jill Johnston, Jaqueline Ceballos und Diana Trilling mit Norman Mailer, der Titel der Veranstaltung war „A Dialogue of Women’s Liberation“. Und im Publikum saß Susan Sontag. Außerdem dokumentiert Regisseur RP Kahl, der hier außerdem Norman Mailer spielt, die Proben vor der Lesung. So gehen im Re-Enactment und den Diskussionen der Schauspieler:innen die Geschichte der feministischen Bewegung mit gegenwärtigen Geschlechterkämpfen zusammen.
Der iranische Film Sun Children verbindet Drama, Abenteuerfilm und Sozialrealismus, und das sehr überzeugend. Regisseur Majid Majidi inszeniert die Geschichte von vier Straßenkindern in Teheran, die unter einer Schule nach einem Schatz suchen, mit Tempo, Witz und einem guten Gespür für seine überzeugenden Kinderdarsteller. Sun Children wurde bereits 2020 in Venedig im Wettbewerb gezeigt. Der Rezensent des „Screen Daily“ sah einen lebendigen, intensiven, aber auch sehr didaktischen Film, der „das Herz am rechen Fleck hat“.
Zum Schluss noch ein Western im bayerischen Dialekt. Hopfen, Malz und Blei von Regisseur Mark Lohr, der auch den Schnitt, Teile des Drehbuchs und die Kamera übernommen hat, wurde 2021 in den bayerischen Wäldern während des Lockdowns gedreht, und der Spaß, den die Schauspieler:innen und alle übrigen Beteiligten beim Dreh hatten, kann man dem Film ansehen. Ob er sich ohne Weiteres bis ins Publikum überträgt, ist die Frage. Jedenfalls ist der Bezug, den Hopfen, Malz und Blei zu seinem Genre herstellt, ein durchweg ironischer, und das Ergebnis punktuell immer wieder schöner Unfug. Der Film lief im November bereits kurz in den Kinos, wurde dann wegen der schwindenden Zuschauerzahl unter 2G-Bedingungen wieder rausgenommen, jetzt kommt der zweite Versuch.