Provokation oder Privileg?

„Memoria“ zeigt uns den Zauber der Wirklichkeit – jetzt auf Mubi.

Memoria, 2021, Swinton
Memoria, 2021, Apichatpong Weerasethakul

Slow Cinema empfinden die einen als Frechheit, die anderen als Luxusgut. Anhand des Films „Memoria“ von Apichatpong Weerasethakul lässt sich selten klar begreifen, was es damit auf sich hat.

Wenn die Bedeutung eines Films, also das, was der Film uns sagen oder zeigen will, sich nicht erschließt, greift man zum Text; man geht ja meist davon aus, dass Filme dergleichen im Sinn haben. Zwei Wochen vor dem Kinostart von Apichatpong Weerasethakuls Memoria hat Georg Seeßlen in epd Film einen kurzen Essay zum Slow Cinema veröffentlicht, dessen klärende Qualität darin besteht, dass er Attribute, Empfindungsqualitäten und Semantisches der filmästhetisch lose durch die Kategorie „Slow Cinema“ verbundenen Filme bestimmt, und das in einer Weise, die die eigene Filmwahrnehmung sortiert, kontextualisiert und in vielem auch bestätigt. Man hat es nur selbst so nicht formulieren können. Seeßlens Text nimmt den Filmen, von denen er handelt, etwas von ihrer Rätselhaftigkeit, ohne sie dadurch zu verkleinern.

In der Filmkritik kommen idealerweise zuerst die Bilder und dann alles Thesenhafte, formuliert in der Hoffnung, ihnen so gut es geht gerecht zu werden. Man kann die Thesen aber ausnahmsweise auch einmal vorneweg schicken: „Man könnte sehr allgemein sagen, Slow Cinema sei von Beginn an eine Bewegung der Peripherie gegen die Zentren der Traumfabriken gewesen“, schreibt Seeßlen – „sehr persönliche Gesten gegen die Action- und Effektgewitter der digital aufgerüsteten Blockbuster, Genauigkeit der Beobachtung gegen Gefühlsmanagement der Bildindustrie“.

Das ist der offensichtlichste Aspekt. Im Falle meiner Sichtung von Memoria war er besonders grell, weil ich am selben Tag noch einmal Christopher Nolans Tenet gesehen hatte, der mit dem Slow Cinema gemeinsam hat, dass er einen experimentell gedachten Zugriff auf filmische Zeitkonstruktionen unternimmt. Davon abgesehen aber könnte Tenet gegensätzlicher nicht sein: eine lustvoll-brutale Bearbeitung der Zuschauerwahrnehmung mit allen technischen Mitteln, quasi Michael Bay plus zwei Semester Einführungsseminar theoretische Philosophie. Der filmischen Langsamkeit hingegen geht es, laut Seeßlen, „nicht so sehr um Handlung, um Botschaft, um Idee oder gar Effekt, nicht um Utopie oder Hölle, nicht um Aufbrüche ins Unbekannte, sondern um den Zauber der Wirklichkeit“. Also innere Reisen, nicht die Flugreisen von Objekten (Menschen und Projektilen) durch die filmischen Räume.

memoria, weerasethakul
Tilda Swinton, Juan Pablo Urrego

Bevor wir weitermachen: Memoria hat tatsächlich so etwas wie eine eine Handlung. Jessica (Tilda Swinton) ist auf der Suche nach der Lösung eines Rätsels, dem Ursprung eines unheimlichen Geräusches, das sie immer wieder hört, als einzige, ein dumpfer Schlag. Sie besucht ihre Schwester (Agnes Brekke), die in einem Krankenhaus in Bogotá liegt und trifft dort den Soundtechniker Hernán (Juan Pablo Urrego). In einer über zehn Minuten langen Einstellung kommt der Film im ersten Drittel zum ersten Mal vollends zur Ruhe: Hérnan versucht gemeinsam mit Jessica das Geräusch am Mischpult zu kreieren, das, was Jessica erinnert, mit technischen Mitteln zu erschaffen, also etwas radikal Subjektives von Innen nach Außen zu transportieren. Erinnern heißt in Memoria konstruieren, und während die beiden, Jessica nach Schlafstörungen übernächtigt, Hernán in stiller Konzentration, am Klangmaterial arbeiten, entfaltet sich die gleichsam schwebende Bild- und Klangwahrnehmung, deren Ermöglichung einer der Zwecke des Kinos von Apichatpong Weerasethakul sein könnte; wenn dieses Kino überhaupt einen Zweck verfolgt. Eine nahezu außerkörperliche Zuschauererfahrung, zumindest dann, wenn diese Bilder und Klänge auf jemanden treffen, die oder der die Zeit und die Entspannung und die Ruhe mitbringt, sich von ihnen umschließen zu lassen (Slow Cinema ist immer auch ein privilegiertes Kino: „Tatsächlich verfügen die meisten der von Slow-Filmen abgebildeten Menschen kaum über die freie Zeit, die man zu dieser Art Sehen benötigt“, schreibt Seeßlen).

Diese Art Sehen setzt die Möglichkeit und die Bereitschaft zur Verlangsamung voraus. Der Plotverlauf in Memoria ist eigentlich keiner, das Tempo der Bilder drosselt sich immer weiter, und am Ende wird Jessica Hernán wieder treffen, gealtert, während in der Welt des Films kaum Zeit vergangen ist. Jetzt ist er eine Art Schamane (Elkin Díaz), der unfähig ist, irgendetwas zu vergessen und deswegen sein Dorf nie verlassen hat, um die Eindrücke zu reduzieren. Also das personifizierte Slow Cinema, wenn man so will, das allerdings trotz aller Ortsgebundenheit ohne das  globalisierte Kinos nicht zu denken ist, in dem Sinne, dass es gegen dessen Geschwindigkeit und damit gegen die Verwertung der Bilder und Menschen Einspruch erhebt; Seeßlen geht noch weiter und erspäht einen „Widerstand gegen das besinnungslose Tempo des welterobernden Kapitalismus“.

Hernán sitzt am Rande seines Dorfes, kein Mensch sonst ist dort, und entschuppt Fische. Die Erinnerung an das, was passiert ist, in Steinen gespeichert, die um ihn herumliegen. Jessica spricht mit ihm, in einer Einstellung, die zu den längsten im bisherigen Werk Weerasethakuls gehört – soweit sich das überhaupt sagen lässt, insofern es dem Regisseur im Verbund mit seinem Kameramann Sayombhu Mukdeeprom gelingt, das Zeitempfinden außer Kraft zu setzen. (Mukdeeprom hat bereits für Luca Guadagninos Filme Call Me by Your Name und Suspiria und nicht zuletzt natürlich für Uncle Boonmee erinnert sich an seine früheren Leben entweder stille oder spektakulär schöne Bilder konstruiert.)

In Szenen wie der eben beschriebenen wird spürbar, dass die Langsamkeit des Slow Cinema kein Manierismus ist, sondern eine Empfindungsqualität (und nicht zuletzt eine Sanftheit) im Kino ermöglicht, die mit anderen Mitteln nicht erreichbar wäre. Diese Empfindungsqualität ist unlösbar verbunden mit Undeutlichkeiten, Leerstellen, die gar nicht gefüllt werden wollen, einer Auflösung nicht zuletzt der Einheit von akustischem und visuellem Raum, die das Genrekino als selbstverständlich voraussetzt.

Sein eröffnet Möglichkeiten. Man realisiert es kaum, wenn man mit undefinierten Empfindungen durch die Filme Apichatpong Weerasethakuls driftet, aber man wird von ihnen häufiger und tiefgehender überrascht als von den meisten aufgekratzten Plot-Twists konventionellen Zuschnitts (einen kleinen Final-Twist-Scherz erlaubt Memoria sich am Ende dann aber doch). „Das Bild ist die Frage, nicht die Antwort.“ Und Fragen sind nun mal meist interessanter als die Antworten.

 

Memoria
Kolumbien/Thailand u.a. 2021, Regie Apichatpong Weerasethakul
Mit Tilda Swinton, Jeanne Balibar, Juan Pablo Urrego, Elkin Díaz
Laufzeit 136 Minuten