Sich im Anderen erkennen

Neu im Kino KW 40 (DE)

Seidl, Rimini
Rimini, 2022, Ulrich Seidl

Rimini-Schlager und Schläge, Mode und Monopol, Mona Lisa und der Blutmond und ein Frauenkönig: unsere Auswahl der Wochenstarts in Deutschland.

Ulrich Seidl ist gerade vor allem über die Kontroverse um die Dreharbeiten zu Sparta in den Medien. Bei aller berechtigten Aufregung – schließlich steht hier ein ganzes Produktionsprinzip infrage – ist es schön, noch einmal daran erinnert zu werden, welche Kraft das Kino Seidls in seinen besten Momenten haben kann. Sein neuer Film Rimini schließt an die Paradies-Trilogie an, in dem Sinne, dass es auch hier vor allem um die Sehnsucht geht. Der Großteil des Casts ist mit professionellen Schauspieler:innen besetzt, also kein ungutes Exploitation-Potenzial in diesem Falle, alle wissen, was sie tun. In dieser Hinsicht ist Rimini der formal konventionellste Film Seidls, am nächsten dran an Spielfilmkonventionen. Und trotzdem einer seiner stärksten: In der Geschichte des ehemaligen Schlagerstars Richie Bravo (urgewaltig: Michael Thomas) kann Seidl eine der größten Qualitäten seines Werks in Anschlag bringen. Man sieht Menschen, die man gerne belächeln oder auch schlimm finden würde. In diesem Fall ein runtergekommener Schlagersänger mit Alkoholproblem, der sich für seine altgewordenen Fans, nachdem er an den denkbar tristesten Orten vor zwei Dutzend Leuten aufgetreten ist, prostituiert und nie Alimente für seine Tochter gezahlt hat. Ulrich Seidl kann so eine Figur so zeigen und inszenieren, dass Überheblichkeit unmöglich wird und man stattdessen anfängt, sich im anderen zu erkennen. Also nicht in seinem Charakter, sondern in dem Versuch, dem Leben so etwas wie Glück und ein wenig Glanz abzuringen. Sogar das ja eigentlich dümmliche Glücksversprechen des Schlagers wird hier ernstgenommen und als Glücksversprechen gezeigt, dass man als solches bitte respektieren sollte. Rimini ist ein an einigen Stellen schon auch fieser, vor allem aber sehr trauriger Film.

Über die Modebranche in der DDR weiß man als Westdeutscher eigentlich nichts, und das Interessanteste an Aelrun Goettes autobiografisch geprägtem Film In einem Land, das es nicht mehr gibt ist, wie hier die typischen tristen Bilder aus deutschen sozialistischen Fabriken von realsozialistischen Glamour-Inszenierungen abgelöst werden. Es ist 1989, kurz vor der Wende, und Suzie (Marlene Burow) will raus aus der Enge. Zufällig landet sie auf dem Cover der DDR-Modezeitschrift „Sibylle“ und wird Foto-Model. Goette, geboren 1966 in Ost-Berlin, dekliniert den in den Filmen über die DDR sehr beliebten Gegensatz zwischen gesellschaftlichem Druck und Eigensinn an. Exzentrische Modemacher:innen sind nun nicht das erste, was man mit der DDR verbindet, und in dieser Hinsicht fügt der Film den filmischen Bildern des untergegangenen Staates tatsächlich etwas Neues hinzu. „Menschen, die in dieser Zeit gelebt haben, wollen einerseits, dass endlich einmal die Welt, die bisher immer im Schatten war, ans Licht kommt und sie auch mit ihrer Individualität vorkommen“, sagt Goette. „Gleichzeitig musste ich sehr vorsichtig sein, um mich nicht zu nah an den Figuren zu bewegen, weil das sicherlich Empfindlichkeiten treffen kann, auf die ich gar nicht vorbereitet bin.“

Das Ende des Kapitalismus wiederum kann sich das Kino irgendwie nur als Ende der Welt vorstellen. Es muss also bislang noch phantasiert werden. Vesper Chronicles spielt in einer Welt, in der die Ökosysteme zusammengebrochen sind, geblieben sind die sozialen Hierarchien. Die im Licht leben in Festungen, die anderen, die Mehrzahl natürlich, im Niemandsland, wo der Kampf ums Überleben herrscht. Die Metapher für Ausbeutung ist hier relativ einfach: Die unteren Klassen können das Blut ihrer Kinder gegen Saatgut eintauschen – die einzige Möglichkeit zu überleben. Das genretypische Kind mit Erlöserfunktion (Raffiella Chapman) findet möglicherweise einen Weg, die Welt zu retten und das Monopol zu brechen. Auf dem Weg dahin kommt Vesper Chronicles mit angenehm wenig Action-Brimborium aus und verlässt sich eher auf seine dystopische Ästhetik.

Zurück in die Vergangenheit, die hier aber ebenfalls für eine emanzipatorische Erzählung genutzt wird, geht es mit The Woman King. Im Zentrum von Gina Prince-Bythewoods Film steht eine kampferprobte Brigade von Kriegerinnen im Westafrika der 1820er Jahre. Und es ist schon interessant, wie sich die Feminisierung des Plots, der dem von Historienkriegerschinken wie Braveheart nicht unähnlich ist, auf Wirkung und Subtext von The Woman King auswirken. Der nämlich wird, zurecht, nicht als reaktionärer Historienschinken rezipiert, sondern als postfeministisches Werk. (Mehr über den Film in unserem Viola-Davis-Porträt.)

Ana Lily Amirpour wurde 2014 mit ihrem gleichfalls feministischen Vampirfilm A Girl Walks Home Alone at Night bekannt. Der Nachfolger The Bad Batch ging trotz Festival-Erfolg eher unter. Amirpours neuer, Mona Lisa and the Blood Moon, könnte so etwas wie ein Durchbruchsfilm werden. Ein an den Fantasy-Filmen der Achtziger- und Neunzigerjahre orientiertes (seit Stranger Things eine recht sichere Bank), subversives, dunkles Außenseiteractiondrama mit starker Heldin: Jeon Jong-seo aus dem südkoreanischen Film Burning in ihrer ersten englischsprachigen Rolle. (Hier geht’s zum Trailer.)