Alles überall auf einmal

Neu im Kino KW 17

meltem kaptan
Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush, 2022, Andreas Dresen

Peter Brunner, Gaspar Noé, Michelle Yeoh, Meltem Kaptan, Hanno Koffler u.a. fächern die weitreichenden Möglichkeiten des Kinos auf.

Von der Restwelt isolierte Mutter-Sohn-Beziehungen sind gemeinhin ein Hort des Unheils, man weiß es spätestens seit Hitchcocks Psycho. In Luzifer, dem vierten Spielfilm des auf körperliche und psychische Ausnahmezustände inzwischen spezialisierten Regisseurs Peter Brunner (in unserem Podcast spricht er über Gott und die Welt und das Kino) leben Maria (Susanne Jensen) und Johannes (Franz Rogowski) zu zweit in den Tiroler Bergen. Johannes ist geistig etwas reduziert, ein Kaspar-Hauser-Typ, die Mutter Maria wiederum seit dem Tod ihres Mannes noch einmal wahnhafter religiös als zuvor eh schon. Mit der Nachricht, dass der Wald gerodet wird und sie ihr Heim verlassen müssen, sturzelt die ungut verquickte Zweierfamilie zunehmend ins Delirium. Maria hat den Teufel im Verdacht, und vor einer erhabenen Naturkulisse (wunderschön gefilmt von Peter Flinckenberg) geht es dann los mit der Austreibung. Peter Brunner will mit Luzifer nicht zu wenig und vieles gleichzeitig – Horror, Natur- und Familiendrama. Wem das zu überladen erscheint, kann sich immer noch an der Natur und dem Soundtrack des Ambient-Künstlers Tim Hecker erfreuen, der einerseits alles ins stete Fließen bringt und andererseits durch Verschiebungen und Brüche die Intensität konstant hochhält.

Auf andere Weise überwältigend ist das Kino Gaspar Noés. Vortex steht in gewisser Weise für einen Bruch im filmischen Schaffen Noés, das bislang mit spürbarer Obsession um die Themen Gewalt, Sex und – oft als Verbindung zwischen beidem – Rausch kreiste. Eine Frau (Françoise Lebrun) versinkt zusehends in der Demenz, ihr Mann (gespielt vom italienischen Horrorfilm-Regisseur Dario Argento) möchte, dass alles so bleibt, wie es ist. Noé sucht immer nach einer formalen Entsprechung für seine Geschichten. Hier ist es der ausdauernde Einsatz von Splitscreens, die das Trennende nicht mehr nur metaphorisch markieren, sondern tatsächlich erfahrbar werden lassen. Unsere Kritik zum Film hat Empfehlungscharakter.

Was Leichtes zwischendurch, aus der Rubrik „grandioser Quatsch“: Everything Everywhere All At Once ist zuallererst einmal ein spektakelverliebtes Action-Gedöns mit Multiverse-Überbau (per Verse-Sprung können die Menschen hier auf Fähigkeiten und Erinnerungen der Körper ihrer Gegenstücke in diversen Paralleluniversen zugreifen) und maximalem Brimborium. Und im Weiteren ein Film, der der Action-Legende Michelle Yeoh auf den Leib geschrieben ist. Yeoh hält den ganzen chaotischen, ideenprallen Laden zusammen. Schön, wie hier die Balance zwischen Ernst, Ironie und Albernheit gehalten wird. Eskapismus-Level liegt bei etwa 2000.

Und es wird wieder ernst, meint man zumindest: Andreas Dresen (Gundermann, Halbe Treppe) hat den Prozess um den zu Unrecht des Terrorismus verdächtigten, in Guantanamo inhaftierten Murat Kurnaz verfilmt. Im Zentrum von Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush steht, anders als in Stefan Schallers Verfilmung von Kurnaz’ Autobiografie 5 Jahre Leben, nicht der Inhaftierte, sondern seine Mutter Rabiye. Die wird gespielt von der Kölner Comedienne Meltem Kaptan, und die Casting-Entscheidung zeigt schon, dass Dresen kein schweres Court-Drama im Sinn hatte, sondern etwas Leichteres. Wie jeder Dresen-Film lebt auch dieser primär vom Cast. Alexander Scherer, der sich zu einem der im guten Sinne routiniertesten und vielseitigsten deutschsprachigen Schauspieler entwickelt hat in den vergangenen Jahren, spielt den Bremer Menschenrechtsanwalt Bernhard Docke mit norddeutschem Understatement. Und Meltem Kaptan verbreitet auf der Leinwand eine unbändige Energie und ungebrochene Lebensfreude, bei allem Elend (und erhielt dafür einen Silbernen Berlinale-Bären).

Ein eher alltägliches Elend beschreibt Mia Maariel Meyers zweiter Film Die Saat. Die Mieten werden teurer, eine Kleinfamilie (Vater, Mutter, Tochter) treibt es an den Stadtrand, ins Eigenheim, dessen Finanzierung wiederum abhängt vom beruflichen Aufstieg des Vaters. Als dieser Aufstieg sich als porös erweist, zerbröckelt auch anderes nach und nach. Ein Film über ökonomische und materielle Sachzwänge, die die Menschen immer wieder vor Entscheidungen stellen, die sie nicht frei treffen können. Auf die großen Fragen – Hauptdarsteller und Drehbuchautor Hanno Koffler formuliert sie im MDR-Interview so: „Wer zwingt uns denn dazu eigentlich, für den Wettbewerb in der Arbeitswelt härter zu sein? Warum müssen wir das tun?“ – will der Film keine Antworten geben. Er hält sich einfach an seine Figuren und geht mit ihnen ihren Weg, also abwärts.

Die Kinovorschau hat mit der Geschichte einer kranken Mutter-Sohn-Beziehung begonnen und endet mit einer vergleichsweise sonnigen Vater-Tochter-Beziehung. Wolke unterm Dach erzählt von der Trauer nach dem Tod von Julia (Hannah Herzsprung), die ihren Mann Paul (Frederick Lau) und ihre Tochter Julia (Romy Schroeder) zurücklässt. Dabei verfährt der Film nicht eben subtil (hier der Trailer) und seine Ideen sind nicht immer neu: Paul lässt sich volllaufen, Julia imaginiert die tote Mutter als Geist auf dem Dachboden. Die emotionalisierende Musik ist omnipräsent und muss erledigen, was den Bildern und den Figuren alleine nicht gelingt.