Splitlife

Unerhört berührend: „Vortex“ von Gaspar Noé – jetzt im Kino (DE)

Vortex Splitscreen
Vortex, 2021, Gaspar Noé

„Das ist der Tod: Die Gegenstände eines Lebens, die man anderen hinterlässt und die ebenso schnell im Müllwagen verschwinden wie die Erinnerungen, die zusammen mit dem Gehirn verrotten.“ (Gaspar Noé, Schöpfer von „Vortex“)

Zu Beginn teilen sie noch einen gemeinsamen Raum, das alte Ehepaar in seinen Achtzigern in der großzügigen Dachwohnung in Paris. Da sitzen sie auf der Terrasse in der Mitte dieses wohligen Gehäuses und versichern einander bei einem Glas Wein und etwas Brot ihres Glücks. Es geht uns gut und das Leben ist schön. Dann singt jemand ein trauriges Lied frontal in die Kamera und danach trennt sich das Bild, wird zum Splitscreen; fortan ist der Raum, obzwar rein äußerlich für die Frau wie den Mann derselbe, kein gemeinsamer mehr. Und geteilt nur, insofern sie ihn beide zur gleichen Zeit bewohnen. Denn die Frau leidet an Demenz und der Mann ist davon überfordert.

Gaspar Noé, der hier ein Drehbuch verfilmt, in dem er jüngste, eigene Erfahrungen verarbeitet, hat Vortex all denen gewidmet, „deren Hirn vor ihrem Herzen zerfällt“. Es ist ein in vielerlei Hinsicht bemerkenswerter Film, der ohne jede Beschönigung von der Mühsal des Alters berichtet. Und dessen niederschmetternder Effekt zu nicht geringem Teil den beiden herausragenden Darstellern Françoise Lebrun und Dario Argento zu danken ist, die nicht die geringste Furcht vor den Abgründen zeigen, die sich im Verlauf der Geschichte vor ihnen auftun.

Lebrun ist Cineasten aus dem Nouvelle Vague-Meilenstein La maman et la putain (Jean Eustache, 1973) bekannt; Argento hat sich bislang nicht durch Schauspielerei hervorgetan, dafür aber einige Gialli gedreht (Suspiria, Tenebrae, Opera), ohne die die Welt eine ärmere wäre. Und sie wäre es auch ohne dieses späte Debüt in einer Hauptrolle, das roh und authentisch ist, ehrlich und reichhaltig. Die beiden Alten – Lebrun ist 77, Argento 81 – spielen also zwei Alte, denen das Leben auf unterschiedliche Weise, doch gleichermaßen grausam in den Händen zerfällt.

Vortex, Gaspar Noé
Françoise Lebrun, Dario Argento

Zwar folgt die Frau noch ihren Alltagsroutinen, erkennt in ihnen aber keinen Sinn mehr, sie verläuft sich in den Läden, in denen sie früher Einkaufen ging, sie vergisst die Klospülung und das Gas; wie fremd die Welt doch mit einem Male geworden ist. Ihr Mann hasst, was da passiert; dass er im Begriff steht, seine Frau an das große Nichts zu verlieren, empört ihn; notgedrungen räumt er ihr hinterher, genervt und hilflos. In dieser alten, ungeheuer charaktervollen Wohnung, die verwinkelt ist und angeräumt. Aus jeder Ecke quellen Bücher, Videos, Zeitungen und Zeitschriften; dann sind da natürlich noch die Souvenirs, kleine Kostbarkeiten der Erinnerung, die rundherum verloren geht. So viele Jahre bilden sich hier ab, die sie gemeinsam verbracht haben; sie, die als Psychiaterin arbeitete, und er, der Filmkritiker, der gerade an einem Buch über Filme und Träume arbeitet, eh klar. Während die Frau Tabletten einwirft, die sie sich selbst verschreibt, raucht der Mann wie ein Schlot – was Argento Gelegenheit zu einer Herzattacken-Szene gibt, die könnte Oskar Werner – der mit seinem Niedergang in Ship of Fools (Stanley Kramer, 1965) Platz Eins belegt – den Schweiß der Konkurrenzangst auf die Stirn treiben.

Apropos österreichische Konkurrenz: Der Gedanke an Michael Hanekes Amour (2012) drängt sich auf, ein Vergleich liegt auf der Hand – ob er aber sinnvoll ist? Auch Amour ist ein Film über ein altes Ehepaar, in dessen Leben die Krankheit der Frau einbricht und dem Mann die Gefährtin entreißt, resultierend zunächst in tapferer, doch eben altersgeschwächter Gegenwehr und schließlich allseitiger Vernichtung.

Mit Haneke, dem Verkopften, selbst soeben Achtzig geworden, steht das Bildungsbürgertum einer Bohème in Gestalt des instinktgetriebenen Noé gegenüber. Jean-Louis Trintignants immanente Grandseigneurhaftigkeit verleiht seiner Figur Sanftmut und Würde, wo Argento sich in Gestaltung der seinen auch vor Überdruss und Abneigung nicht scheut. Und wo Emmanuelle Riva vornehm auf dem Krankenlager ruht, rührt Lebrun schon mal in der Scheiße. So berührend Hanekes Amour dank der herausragenden Schauspielerei auch ist, er verhält sich zu Vortex wie Charlottenburg zu Neukölln, Wein zu Schnaps, Pastell zu Primär, Schönberg zu Coltrane.

Vortex erzielt seine Wirkung jedoch nicht, weil enfant terrible Noé einmal mehr das täte, wofür er berühmt-berüchtigt ist, also mit besonderer Grausamkeit zu Werke gehen und mit sadistischer Freude allerhand Scheußlichkeiten vor uns ausbreiten. Nein, ganz und gar nicht. Es ist vielmehr so, dass man in jeder einzelnen Einstellung spürt, dass Noé das Geschilderte zutiefst was angeht. Dass das Leid und die Ratlosigkeit, die wir sehen, empfunden sind. Aus jeder Szene sickert das ohnmächtige Mitleid unaufhaltsam zu uns herüber und in uns ein. Wir kommen anders aus diesem Film heraus.

 

Vortex
Frankreich 2021, Regie Gaspar Noé
Mit Françoise Lebrun, Dario Argento, Alex Lutz
Laufzeit 140 Minuten