Zorn der Bestien

Ein Ungetüm von einem Film: „Jallikattu“ – jetzt auch auf Prime Video

Zorn der Bestien – Jallikattu, 2019, Lijo Jose Pellissery

„Zorn der Bestien – Jallikatu“ von Lijo Jose Pellissery ist ein sagenhaft wildes Action-Kunstwerk aus Indien.

Ein Stier entkommt dem Fleischer und wetzt durch ein kleines indisches Dorf. Die Gemeinschaft gerät in Erregung, das Tier muss erlegt werden, bevor es Unheil anrichtet. Bald gibt es erste Sachschäden. Trotzdem erscheinen die Reaktionen der Dorfbewohner seltsam unverhältnismäßig. Einige kümmern sich gar nicht, gerade die Frauen des Dorfes bleiben gelassen, während die Männer die Existenz der Gemeinschaft in Gefahr sehen. Das Wilde muss eingefangen werden.

Man spürt, dass eine realistische Figurenpsychologie das Interesse des Regisseurs Lijo Jose Pellissery nicht ist. Sein 2019 entstandener Film Jallikattu interessiert sich mehr für einen Zustand oder, wenn man so will, eine Dynamik. Der deutsche Übertitel verrät die naheliegende Drehung schon: Der Plural, Zorn der Bestien, legt nahe, dass das Bestialische nicht vom Stier verkörpert wird, denn der ist ja nur einer, und sonderlich wütend wirkt er auch nicht. Bleiben also noch die, die ihn jagen.

Und die werden schnell immer mehr. Jallikattu bringt verschiedene Formen der Massenbildung zur Anschauung. Um an die Begriffe von Elias Canetti anzuschließen (und genauere hat bislang auch noch niemand entwickelt): Wir sehen die Entwicklung von der Jagdmeute zur Hetzmasse, unterbrochen von Phasen der Fragmentierung und der Fluchtmassenbildung. Das klingt hingeschrieben natürlich viel zu klinisch. Zorn der Bestien aber ist kein diskursiver Film, sondern, wenn auch abstraktes, Bewegungs- und Körperkino.

Zorn der Bestien

Die erste Sequenz gibt die Taktung vor: rhythmisch montierte Bilder, die spüren lassen, dass sich hier etwas unaufhaltsam vollziehen wird. Alle Figuren in diesem Film sind reine Affektwesen, getrieben von dem, was in ihrem Inneren vorliegt und auf Ausbruch wartet. Aber auch hier, keine Psychologie: Zwar gibt es Neid und Eifersucht als konfliktverstärkende Momente, aber im Wesentlichen ist die Jagd etwas, von dem die Menschen schlicht ergriffen werden, ohne Unterschied; zumindest die Männer.

Für diese ja eigentlich sehr einfache Idee hat Pellissery intensive, pechschwarze Bilder gefunden. In ihrer Bewegtheit entfaltet diese dunkle Feier des Archaischen schnell eine fiebrige Atmosphäre, befeuert von einer Soundspur mit ritualistischen Chören, die das Geschehen anheizen.

Es wird immer wieder gerannt in diesem Film, in eine Richtung, durcheinander, eine ausdauernde Anstrengung, die sich auf Zuschauerin und Zuschauer überträgt. Weder die Flucht vor dem noch die Jagd auf das Tier wirken, als seien sie zielorientiert. So wie die Bilder selbstzweckhaft anmuten, scheinen auch die Handlungen der Massenmenschen an sich selbst genug zu haben. Durch diese Selbstzweckhaftigkeit löst Jallikattu die Plot-Struktur gleichsam auf. An ihre Stelle treten mit zermürbender Ausdauer ins Bild gesetzte Extremzustände.

Lijo Jose Pellissery ist einer der Regisseure der New Wave des Malayalam Cinema, einem seit den frühen 2010er Jahren entstandenen Korpus von Filmen, die über stilistische Merkmale lose miteinander verbunden sind. Pellisserys 2011 erschienener City of God war einer der ersten einschlägigen Filme der Malayam New Wave, indem er Sozialrealismus mit avancierten und überraschenden narrativen Strukturen und Inszenierungsweisen verband. Es gibt in dieser inzwischen ja auch nicht mehr ganz neuen Welle, nebenbei bemerkt, unheimlich viel zu entdecken: ein indisches Kino, das filmästhetisch ausgesprochen innovativ und zugleich nah an der sozialen Realität der eigenen Gesellschaft operiert.

Eine ähnliche Mischung findet man auch in Jallikattu, wenngleich seine Anthropologie nicht originell und als freudianisches Menschenbild sofort abrufbar ist: Unter dem Firnis der Zivilisation harrt die wilde, archaische Natur auf die nächste Ausbruchsmöglichkeit. Seine Durchschlagskraft entfaltet dieser Film dann auch erst auf der entscheidenden Ebene, der der Bilder. Die nämlich hitzen sich immer mehr auf, bis hin zum Finale, in dem sich die Massenkörper zu einem Menschenberg auftürmen. Allerspätestens da kippt der Film vollends in ein Traumgeschehen. Die Verbindung von Realismus und Alptraum ist das eigentlich Irritierende an Zorn der Bestien, dessen dunkle Schönheit man sich am besten erschließen kann, wenn man davon ausgeht, dass er eigentlich nicht zum narrativen Kino gehört, sondern einen seltsamen Hybrid aus Experimentalfilm und selbstzweckhaften Körperkino darstellt.

 

Gegen geringes Entgelt bei Prime Video, Apple TV+ u.a. abrufbar bzw. bei WVG Medien auf Disc erhältich. Wir sind gespannt auf Pellisserys bereits fertigen nächsten Film, das Sci-Fi-Zeitschleifen-Schrecknis Churuli.

 

Zorn der Bestien – Jallikattu
Indien 2019, Regie Lijo Jose Pellissery
Mit Antony Varghese, Chemban Vinod Jose, Sabumon Abdusamad
Laufzeit 95 Minuten