Longlegs

Gehobener, dichter Horrorthriller mit Nicolas Cage – im Kino

Perkins, Monroe, Cage, Longlegs
Longlegs, 2024, Oz Perkins

„Longlegs“ von Oz Perkins: keine billigen Effekte, sondern Horror als kunstvolle Darstellung gesellschaftlicher Beunruhigung – in DE und AT im Kino.

Die Welt, die sich in Longlegs von Oz Perkins dem Horror entgegen stemmt, ist mittig strukturiert und nahezu entvölkert. Will sagen, Andres Arochis Kamera sucht oft und gerne die zentrale Perspektive und zeigt beinah menschenleere Räume; beinah, denn im Fluchtpunkt des Blicks steht, sitzt, liegt oder bewegt sich meist eine nicht eben große und auch eher schmale Frau; still, ernst und konzentriert: Maika Monroe als FBI-Agentin Lee Harker, Neuling, zurückhaltend, abgekapselt, in sich verschlossen wirkend. Sie wird auf den Fall eines Serienmörders angesetzt, der die in seltsamer Symbolschrift verfassten Briefe, die er an den Tatorten hinterlässt, mit „Longlegs“ unterzeichnet. An den Tatorten löschten ganze Familien sich jeweils selbst aus, und die Briefe sind der einzige Hinweis darauf, dass jemand von außen ein- und auf die schrecklichen Taten hinwirkte. Natürlich gelingt es Harker in Nullkommanix, Longlegs Geheimschrift zu entschlüsseln, und nicht minder rasant hat sie eine Spur entdeckt, auf der sie sich, gemeinsam mit ihrem Chef, an des Killers Fersen heftet. Ebenso überraschender- wie unangenehmerweise landet Harker auf diesem Wege im Haus ihrer Mutter und irgendwie auch in ihrer eigenen Kindheit.

Das Böse tobt sich aus in den Vorstädten und auf dem Land, dort, wo die konservativen Teile der US-amerikanischen Einwohnerschaft ihre Identität verorten. Unter den „Normalen“, den „Rechtschaffenen“, den „aufrechten Christenmenschen“. Logisch, dass sich der Teufel, „the man downstairs“, wie er im Film genannt wird, von all der zur Schau gestellten Frömmigkeit herausgefordert fühlt, ganz besonders natürlich von der Unschuld der Mädchen.

Es ist kein Geheimnis, dass Schauspiel-Großmeister Nicolas Cage, der Longlegs mitproduziert hat, die Titelfigur spielt. Sein Charakter-Face ist unter ein paar Kilo Maske (verantwortlich: Harlow MacFarlane) verborgen, was seiner Ganzkörper-Ausdruckskraft freilich keinen Abbruch tut. Ja, womöglich macht sie sein Spiel sogar noch unheimlicher, weiß doch die Zuschauerin um den Vulkan, der unterm Silikon brodelnd nur auf die Gelegenheit zur Explosion lauert. Und was mag dann hervorbrechen? Cage/Longlegs sieht im Übrigen so aus wie eine etwas gruselige, alte Tante, die es eigentlich nur gut mit einem meint. Mit dem Unterschied allerdings, dass diese Tante es überhaupt nicht gut mit einem meint, denn diese Tante steht mit dem Beelzebub im Bunde. Vielleicht ist sie/er auch der Leibhaftige höchstselbst. Oz Perkins, der in seinem überaus dichten Horror-Krimi-Thriller mit offenen Karten spielt, die nichts verraten, ist klug genug, diese Frage unbeantwortet zu lassen; ebensowenig präsentiert er am Ende des nach eigenem Drehbuch inszenierten Films irgendeine Beruhigung.

Möglicherweise geht die Geschichte in Form eines Sequels weiter. Möglicherweise muss man aushalten, dass sie in der Schwebe bleibt. Möglicherweise löst sich das Rätsel beim zweiten Sehen. Möglicherweise ist dies alles überhaupt nicht wichtig.

Wichtig ist aber, dass ein Film wie Longlegs inmitten des allerorten wuchernden, wie ausgestanzt und generisch vom Band rollenden „Laufbild-Contents“ (früher hieß diese Produktionshalle mal „Traumfabrik“) mehr als nur eine frische Brise darstellt. Osgood ‚Oz‘ Perkins – Sohn des in Hitchcocks Psycho (1960) ikonisch gewordenen Anthony – ist zuletzt mit Gretel & Hansel (2020) angenehm aufgefallen, in dem er eines der grausamsten Erziehungs-Märchen vom Kopf auf die Füße stellte. Dort wie hier hält er sich nicht an die Infantilitätspflicht, er missachtet das Gebot des Billigheimer-Effekts – weit und breit keine Jumpscares, nirgendwo manipulative Musik (letztere ist zu verdanken: Oz‘ Bruder Elvis aka Zilgi) –, er trampelt auf der Regel der Zuschauerunterforderung herum, er zeigt der erzählerischen Dummheit ebenso die lange Nase wie der Orientierung auf den leichten Gewinn. Stattdessen behauptet er das Geburtsrecht des Horrorfilms, sich in künstlerischer Form mit gesellschaftlicher Beunruhigung auseinanderzusetzen.

Was bedeutet es in diesem Kontext und vor dem Hintergrund von Ort und Zeit der Handlung – der für seine Alternativkultur bekannte Bundesstaat Oregon während der Clinton-Administration –, dass sich der Teufel einer Madonnen-gleichen Figur bedient, um in den guten Stuben der Freien und Braven ein Blutbad anzurichten? Jener Wolf im Schafspelz, der mit Engelszungen das Blaue vom Himmel verspricht, den Höllen-Thron fest im Blick, kommt er einem nicht bekannt vor? Der Rattenfänger, der von der Größe fabuliert und dessen Lügen lange Beine haben, auf denen er davonkommt … oder nicht?

 

Longlegs
USA 2024, Regie Oz Perkins
Mit Maika Monroe, Blair Underwood, Alicia Witt, Nicolas Cage
Laufzeit 101 Minuten