Vom Erwachsenwerden

Anlässlich des Kinostarts von „C’mon C’mon“: über die Filme von Mike Mills.

C'mon C'mon, 2021, Mike Mills © Tobin Yelland / A24

Auch Mike Mills‘ neuer Film „C’mon C’mon“ hinterfragt tabulos familiäre Bindungen und zwischenmenschliche Beziehungen. In allen seinen Filmen geht es letztlich um Reifeprozesse.

In seinem Spielfilmdebüt Thumbsucker (2005) erzählt er vom 17-jährigen Justin Cobb, der immer noch am Daumen lutscht, sowie von dessen in alle Richtungen auseinander strebenden Familie, die immer noch erst lernen muss, eine Familie zu sein. Beginners (2010) handelt vom 75-jährigen Hal, der nach dem Tod seiner Frau endlich sein Coming Out wagt und eine Beziehung mit einem sehr viel jüngeren Mann eingeht, sowie von Hals erwachsenem Sohn Oliver, der sich, die unterkühlte Ehe seiner Eltern vor Augen, mit eigenen Bindungsängsten und seiner komplizierten neuen Liebe zu Anna herumschlägt. 20th Century Women (2016) rückt die Bemühungen der alleinerziehenden Mittfünfzigerin Dorothea ins Zentrum, ihrem 15-jährigen Sohn Jamie mithilfe zweier befreundeter junger Frauen einen modernen Begriff von Männlichkeit zu vermitteln, sowie die Irritationen, die dieses Bemühen bei Jamie hervorruft. C’mon C’mon (2021) schließlich erzählt vom Radiojournalisten Johnny, der sich während einer familiären Krise um seinen neunjährigen Neffen Jesse kümmert und im Zuge dessen nicht nur alle emotionalen Register eines Buben zwischen himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt kennenlernt, sondern auch selbst die mannigfaltig herausfordernden Erfahrungen eines wenngleich nur temporär Erziehungsberechtigten macht.

Jeweils gut fünf Jahre liegen zwischen den Filmen des 1966 im kalifornischen Berkeley geborenen Grafikdesigners, Videoclip-Regisseurs, Drehbuchautors und Filmemachers Mike Mills (seit 2009 verheiratet mit der bildenden Künstlerin und gleichfalls Filmemacherin Miranda July, seit 2012 Vater eines Sohnes). Mills hat es also nicht eben eilig, zum Ausgleich hat er dann auch jeweils was zu sagen; allesamt umkreisen Mills‘ Filme den Begriff des Erwachsenwerdens – wobei nicht nur Heranwachsende von diesem Prozess allmählichen Sich-Bewusstwerdens der eigenen Verantwortlichkeit in der Welt betroffen sind, sondern auch jene, die nominell bereits als erwachsen gelten. Denn Alter schützt bekanntlich vor Torheit nicht, und die allgemeine Verunsicherung sowie das anhaltende Hadern, das die Vertreter verschiedener Lebensabschnitte miteinander verbindet, machen den Charme von Mills‘ Werk aus. Insofern die Ungleichzeitigkeit von Erfahrung und Lebensalter alle Figuren gleichermaßen betrifft, werden die Begriffe Normalität und Erwachsensein generell zur Debatte gestellt. Folgerichtig entpuppt sich das sogenannte erwachsene Verhalten im Verlauf von Mills‘ Geschichten zumeist als illusionärer Entwurf und als eine durch nichts begründete, in die Zukunft gerichtete Erwartung. Daraus, dass keine der Figuren diesen je genügt, resultiert wiederum ein umfassendes (wenngleich nur vermeintliches) Versagen, dessen sichtbarste Effekte Unglück, Unbehagen und Selbstzweifel sind.

Als Beispiel mag die Thumbsucker-Familie Cobb dienen, die nur auf den ersten Blick abgesehen von Daumenlutscher Justin „ganz normal“ ist: Vater Mike trauert einer verpassten Footballer-Karriere hinterher, Mutter Audrey schwärmt für einen lausigen Fernsehserien-Darsteller, der kleine Joel ist für sein Alter viel zu abgeklärt und Justin, wie gesagt, lutscht mit 17 noch am Daumen. Keiner der vier ist zufrieden mit seinem Leben, keiner von ihnen ist tatsächlich so alt, wie er sich fühlt, und alle fragen sie sich, wie es soweit kommen konnte. Doch nur Justin erlaubt sich die Geborgenheit vermittelnde Kleinkind-Geste, deren regressive Eindeutigkeit als Ersatzhandlung für das Schutzsuchen an der Mutterbrust vor allem seinen Vater peinlich berührt. Denn wie soll man seinen Mann stehen, wenn er den Daumen im Mund hat? (Bzw. an wessen Schwanz wird hier eigentlich gelutscht?)

In ihren jeweiligen Kontexten wirken die unterschiedlichen Normverstöße und Tabubrüche, die von Mills-Figuren hartnäckig und wiederholt begangen werden, wie Befreiungsschläge. Beginners: Hals spätes Coming Out und Olivers Zögern und Zagen mit der Liebe; der unwürdige Greis und der frühvergreiste Sohn; die Himmelsmacht kommt zu ihrem Recht als alles umwälzende Kraft, deren Zerstörungswerk Voraussetzung ist für das Glück, das eine neue Ordnung braucht. 20th Century Women: Dorotheas Erforschung der Jugendkultur und Jamies feministische Anwandlungen; Geschlechter und Generationen, die in der Welt des je anderen unbeholfen herumstolpern; aus dem Bemühen einer Mutter um Teilhabe an der Gegenwart ihres Sohnes wird eine Geschichte über Frauen und ihr Jahrhundert. C’mon C’mon: Johnnys Überforderung, die sich von Jesses Überforderung gekontert sieht; der kumpelhafte Onkel und der altkluge Neffe treiben einander an; aus einer gesprächigen Reise entsteht ein Streifzug durch die aktuelle Befindlichkeit US-amerikanischer Jugend. Und immer hat am Ende sich der Horizont geweitet und der Blick geöffnet und waren die Strapazen es wert.

Mills hinterfragt die Mainstream-Repräsentationen familiärer Bindungen und zwischenmenschlicher Beziehungen, indem er auf normierte Verhaltensweisen verzichtet, die lediglich dramaturgischen Regeln und Gesetzmäßigkeiten unterworfen sind, dafür aber vorgeben, quasi evolutionäre Grundmuster zu sein, mittels derer gesellschaftliche Ordnung überhaupt erst hergestellt werden kann. Der Reduktion komplizierter Gemütszustände auf standardisierte Handlungsverläufe und leicht verdauliche Stimmungshäppchen setzt Mills stattdessen seine nach allen Seiten offenen narrativen Geflechte entgegen. Durch die wiederum sich wie Kettfäden jene Mills-typischen, warmherzig-melancholischen Bildmontagen zeitgenössischen Materials ziehen, die das Geschehen in einen größeren, geschichtlichen Zusammenhang einbetten und damit doch zugleich in der Schwebe halten. In C’mon C’mon sind diese immer auch popkulturell verortenden Montagen ersetzt durch Ausschnitte aus Interviews, die Radiomann Johnny im Zuge seines Projektes mit Kindern und Jugendlichen zum Stand der Dinge führt. Bei welcher Gelegenheit sich einmal mehr die Frage stellt, ob Mills Geschichten nun eher konkret oder eher repräsentativ verstanden werden sollten? Und einem zugleich wieder mal klar wird, dass das im Grunde genommen ganz egal ist. Der sauber simplifizierenden Eindeutigkeit zieht Mills immer und unter allen Umständen das verunklärend Vieldeutige vor; „life is messy“.

Mike Mills Filme handeln von Anfängern und Anfängen, von Aufbrüchen und Wagnissen, von der Angst und der Unsicherheit, vom Abschiednehmen, vom Verlust, vom Tod und von der Liebe. Doch nichts an ihnen wirkt schwerblütig, vergrübelt oder niederdrückend, selbst das Bewusstsein der eigenen Vergänglichkeit nicht, das sie durchzieht, noch die melancholische Haltung, die daraus folgt. Und immer sind sie auch autobiografisch gefärbt: Mit dem spätberufenen unternehmungslustigen Hal in Beginners gedenkt Mills seines Vaters, in der zugleich zugewandten wie in sich verschlossenen Dorothea in 20th Century Women steckt ein Porträt seiner Mutter. Keiner weiß, wieviel Mills sich in Thumbsucker Justin Cobb verbirgt. C’mon C’mon jedenfalls verdankt sich einer Konversation, die der Filmemacher in der Badewanne mit seinem Sohn führte. Und da kommen einem ja bekanntlich immer die besten Ideen.

 

C’mon C’mon
USA 2021, Regie & Drehbuch Mike Mills
Mit Joaquin Phoenix, Woody Norman, Gaby Hoffmann
Laufzeit 109 Minuten