Himmelhoch jauchzende Höllenstürze

Die Filme des Grenzgängers Fabrice du Welz

benoit poelvoorde
Inexorable, 2021, Fabrice du Welz

Der belgische Filmauteur Fabrice du Welz geht auf faszinierende Weise dorthin, wo es weh tut. Das Linzer Crossing Europe Festival widmet ihm nun ein Spezialprogramm (und ein paar seiner früheren Filme können auch gestreamt werden).

Immer wieder kommt es in den Filmen von Fabrice du Welz zu Szenen, in denen wird der Körper einer Figur von den Gefühlen überwältigt. Und es sind keine positiven Gefühle, die zur Entgleisung führen, sondern es sind jene vom Kaliber Angst, Enttäuschung, Eifersucht, Verzweiflung, Wut und Zorn – also jene eher unberechenbaren Mitbewohner des Gefühlshaushalts, die gern mal zur Gefahr werden: Angst steigert sich zur Panik führt zur Kurzschlussreaktion; schon so mancher Mord geschah aus Eifersucht; in blinder Wut werden Untaten verübt; mit der Ent-Täuschung verliert man den Boden unter den Füßen und ist plötzlich zu allem fähig. Undsoweiter.

Das ist gedanklich nicht allzu anspruchsvoll und theoretisch nicht schwer nachzuvollziehen, insofern es sich um Vorgänge handelt, die auf der animalischen Ebene der menschlichen Natur angesiedelt sind; also dort, wo der Instinkt zuschlägt. Aber versuchen Sie mal, das zu spielen!

Wie Lola Dueñas, Gloria in Alléluia (2014), die von der Eifersucht überwältigt hyperventilierend auf der Bettkante sitzt, die Beine gehen in Spasmen auf und nieder, bis der Furor sie mit sich reißt ins Gemetzel. Wie Alba Gaïa Bellugi, Gloria Bartel in Inexorable (2021), die sich an Marcel Bellmer, dem Versager-Schriftsteller (dargestellt vom wunderbaren Benoît Poelvoorde), festklammert und ihn nicht aus der koitalen Umarmung entlassen will, die ihn schließlich in die Schulter beißt wie ein Raubtier, so dass er sie von sich stößt und sie in einem Muster aus Sperma- und Blutflecken zu liegen kommt. Oder wie Fantine Harduin, Gloria in Adoration (2019), die sich, von Paranoia umnachtet, buchstäblich von einer Sekunde auf die andere aus einem sanften, hübschen Mädchen in eine fauchend-spuckende Furie verwandelt – und ihr naiver junger Begleiter Paul (Thomas Gioria) realisiert mit Schrecken, dass er sich schwer übernommen hat, als er mit ihr davongelaufen ist.

Es sind dies Momente des Kontrollverlustes, die nicht nur wild und gefährlich aussehen, sondern es tatsächlich sind. Es ist, als steige das Gefühl von tief unten/innen hoch – wie eine Blase aus der Ursuppe, die schmatzend zerplatzt –, dann stößt es an die Haut, wo es nicht weiterkann und wirkt zurück auf den Körper, der es gefangen hält, lässt ihn erzittern, schüttelt ihn –, und der Körper sucht nach einem Ventil, bevor es ihn zersprengt. Dreimal dürfen Sie raten, wo er es findet.

Infernalisches Rot

Fabrice du Welz gibt sich in seinem Oeuvre nicht mit den ins leicht Verdauliche heruntergedimmten Möglichkeiten dramatischer Narration zufrieden, entschieden geht er den entscheidenden Schritt weiter, dorthin, wo’s weh tut, wo der Seele die Haut abgezogen wird, das rohe Fleisch schmerzt und die Augenlider fehlen.

Mitunter färbt der Blutrausch der Figur dann auch das Licht der Szene; wenn beispielsweise oben erwähnter Schriftsteller – der von seiner Vergangenheit eingeholt wird, er selbst würde es wohl „eine Jugendsünde“ nennen – sich in tiefer Nacht bei strömendem Regen am Scheideweg wiederfindet und es von der einen Seite her kaltblau und von der anderen her tiefrot leuchtet. Auch das mörderische Paar, dessen blutiger Spur wir in Alléluia folgen, schreitet am Ende nicht engumschlungen in einen Sonnenuntergang, sondern auf den Puff-roten Eingang eines Lichtspiel-Theaters zu; ob denn auch ein Liebesfilm gezeigt werde, fragt Gloria, bevor sie den willensschwachen Michel (Laurent Lucas), der ganz allein ihr gehören soll, ins Licht führt. Und freilich ist auch die Hölle auf Erden, die der armselige Entertainer Marc Stevens (wieder: Laurent Lucas) in der abgelegenen Herberge von Monsieur Bartel (Jackie Berroyer) in Calvaire (2004) erlebt, infernalisch rot.

Plakativ? Ja, man kann das wohl plakativ nennen. Im Sinne von: klare Ansage. Da macht einer keine Faxen, da nimmt einer die Sache ernst. Welche Sache? Nun, die Liebe ist ein komplexes und gefährliches Gefühl, die Liebe gedeiht im Grenzbereich von Leben und Tod, in der Finsternis ebensowohl wie im Licht, und es ist dieser Bereich, den du Welz in seinen Filmen vermisst.

Ins Groteske gewendet

Fabrice du Welz, geboren am 21. Oktober 1972, studierte Dramaturgie am Königlichen Lütticher Konservatorium und später am INSAS, dem belgischen Institut für Film und Drama in Brüssel. Im Anschluss an seine Ausbildung war er einige Zeit für das französische und das belgische Fernsehen tätig, erste Kurzfilme entstanden, darunter der preisgekrönte Quand on est amoureux c’est merveilleux (1999), in dem das Motiv der über Leichen gehenden Liebe ins Groteske gewendet ist. Das Groteske birgt hier auch noch das Angebot des Komischen. Ein Angebot, das im folgenden Langfilmdebüt Calvaire – der für die Semaine de la Critique in Cannes ausgewählt wird – nicht wenigen grotesken Elementen zum Trotz konsequent ausgeschlagen wird. Das Lachen – ohnehin eines, das einen angesichts des Grauens packt – bleibt im Halse stecken, weil die Einsamkeit und das Leid der Figuren an der Lieblosigkeit, die ihr Leben prägt, so wahrhaftig sind.

Du Welz verlangt seinen Schauspielern nicht wenig ab. Davon zeugt auch sein nächster Film, Vinyan, der 2008 in den Wettbewerb der Filmfestspiele von Venedig eingeladen wird. Jeanne und Paul Bellmer (Emmanuelle Béart und Rufus Sewell) sind auf der Suche nach ihrem neunjährigen Sohn, den sie bei der Tsunami-Katastrophe in Thailand verloren haben. Eine Spur führt die Eheleute nach Burma, zu Piratenhäfen und in Dschungeldörfer; unterwegs wandelt sich Hoffnung in Obsession, die wiederum zerstörerisch wirkmächtig wird, indem sie das Paar entzweit. Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer: Pauls mäßigender Pragmatismus wirkt auf Jeannes mütterlichen Wahn wie Schwäche; ihre Verachtung auf ihn wiederum als Zurücksetzung – in der entstehenden Kluft keimt der Hass, verliert sich Vertrauen. Der feuchtwarme Urwald mischt Delirium bei – und die Verzweiflung verschlingt sie schließlich beide. Feelgoodmovie geht anders.

Vordergründig Genrefilme

Fabrice du Welz‘ Arbeiten wirken herausfordernd und mitunter sogar unangenehm; vor allem weil sie so präzise in der Entwicklung der emotionalen Gemengelagen sind, und diese zudem immer innerhalb ohnehin bereits problematischer Beziehungskonstellationen verortet werden. Zappelnd in einem Geflecht, das zugleich ein Gefälle ist – die Frau ist meist deutlich verrückter als der Mann und agiert mit entsprechender Autorität –, sieht es für (männliche) Helden in dieser Welt nicht gut aus.

Genrefilme sind diese Filme also nur vordergründig; selbst wenn einem zu ihrer annähernden Beschreibung als erstes Genrebegriffe einfallen: (Psycho-)Thriller und (Backwoods-)Horror, Coming-of-Age und Melodram, Home Invasion und Familientragödie. Sie alle steuern Elemente bei – dramaturgische, visuelle, narrative –, doch in die schnurrende Maschine der Versatzstücke wirft du Welz früher oder später einen Eimer Sand. Beispielsweise eine Szene, in der eine Figur zu sich kommt und ihre Sehnsucht sichtbar wird; wie jene, in der Hinkel (wieder: Benoît Poelvoorde) die Wildgänse hochscheucht und seine Frau nach ihm rufen hört (Adoration); oder jene, in der Marc Stevens mit brüchiger Stimme ein Liebes-Chanson singt und sich auf seinen Schwingen davonträumt (Calvaire). Wenn doch nur endlich die Unruhe im Inneren aufhörte!

Was ist es, was sie antreibt und weitertreibt und immer weiter? Das Verlangen, angenommen zu sein, erkannt zu werden und geschätzt für das, was sie sind, so unbedeutend es auch sein mag. Und so erliegen sie dem Versprechen der Liebe, folgen den Brotkrumen, die sie streut, und stürzen ins Mahlwerk, das hinter der romantisch verklärenden Fassade steht. Denn die Liebe ist eine Himmelsmacht, die jene, die an sie glauben, auf direktem Wege in die Hölle schickt.

 

Das Programm von Crossing Europe (27. April – 2. Mai 2022) findet sich hier, Ticketinfos gibt es hier.

In unserem Podcast sind die Crossing-Europe-Direktorinnen Sabine Gebetsroither und Katharina Riedler im Gespräch zu hören: u.a. über persönlich prägende Filme und Festivals als Wiederankurbler der Kinokultur.

Und wer es nicht nach Linz schafft, aber dennoch in die Hölle will, hier ein paar Tipps zu den früheren Filmen von Fabrice du Welz: Alleluia, Calvaire (z.B. flat auf Prime Video), Quand on est amoureux c’est merveilleux (auf Vimeo), Vinyan