Charakter statt Karikatur

Die wunderbare und wunderbar eigensinnige Frances McDormand

Three Billboards
Three Billboards Outside Ebbing, Missouri, 2017, Martin McDonagh

Bereits vor zehn Jahren entstand dieser immer noch gültige Text über die vielfältigen Frauenfiguren der Schauspielerin Frances McDormand, welche sich in der Zwischenzeit für „Three Billboards Outside Ebbing, Missouri“ und „Nomadland“ zwei weitere Hauptrollen-Oscars erspielt hat.

Vielseitig trifft zwar den Kern der Sache, wird ihr aber nicht gerecht. Denn die Theater- und Film-Schauspielerin Frances McDormand mag über eine erstaunliche Bandbreite verfügen, wenn es um die Gestaltung einprägsamer Figuren geht. Aber der nachhaltige Eindruck, den diese dann hinterlassen, geht über McDormands Vermögen, in völlig unterschiedlichen Rollen auf völlig unterschiedliche Weise völlig zu überzeugen, weit hinaus. Es verhält sich nämlich so: Frances McDormand spielt Frauen. Nicht unschuldige Dinger. Oder ausgeflippte Mütter. Oder unabsichtliche Femmes Fatales. Oder sexy Business-Ladies. Oder alte Jungfern. Oder treue Gefährtinnen. Oder Arbeiterinnen. Oder Heimchen am Herd. Oder oder oder. All das auch, ja, aber Frances McDormand füllt diese vom Drehbuch vorgegebenen Figurenkonstrukte mit Leben und verkörpert sie als authentische, wirklich wirkende, dreidimensionale Frauen. Menschen mit Hirn UND Geschlecht. Mal mit weniger Gehirn und mehr Geschlecht. Mal mit mehr Gehirn und weniger Geschlecht. Immer aber stark und empfindsam, leidenschaftlich und irrational, organisiert und reflektiert, liebend und leidend, zärtlich und biestig, pragmatisch, praktisch, bodenständig, sehnsüchtig, romantisch, verspielt. Weiber eben.

Wie die unkonventionelle Musikproduzentin Jane in Lisa Cholodenkos Laurel Canyon (2002), die sich an ihrem eher spießig geratenen Sohn abarbeitet und bei dieser Gelegenheit dessen süsse Freundin zur Freiheit verführt. Oder die Minenarbeiterin Glory in Niki Caros North Country (2005), die sich gemeinsam mit ihrer Freundin Josey gegen die Schikanen der sexistischen Kollegen zur Wehr setzt – bis ihr buchstäblich die Kraft ausgeht. Oder die Journalistin und Menschenrechtsaktivistin Ingrid Jessner in Ken Loachs Hidden Agenda (1990), die in Irland in eine politische Verschwörung ungeahnten Ausmaßes verwickelt wird. Und die eher schüchterne Mrs. Pell in Alan Parkers Mississippi Burning (1988), die mit einem Ku-Klux-Klan-Mitglied verheiratet ist und nicht mehr länger Teil des alltäglichen Hasses sein will – die für diesen Mut sodann schwer büßt, sich aber trotzdem nicht vertreiben lässt. Und und und. Allesamt Frauen, die sich zu behaupten wissen, ohne zu behaupten, alles zu wissen. Frauen, die versuchen, das Richtige zu tun, im Bewusstsein, nicht immer alles richtig machen zu können. Frances McDormand kann zart und fast zerbrechlich wirken, wenn sie den Mund ein wenig offen stehen lässt und große Augen macht. Doch wenn sie dann ihren ausgeprägten Unterkiefer ein wenig verschiebt, sieht sie patent und burschikos aus. Sie ist eine aparte Schönheit, elegant, sexy – und ein wenig daneben. Ein bisschen nachlässig, weil sie im Allgemeinen eben Wichtigeres zu tun hat, als sich für jemand anderen herzurichten. Und weil sie dem Leben erlaubt, Spuren in ihrem Gesicht zu hinterlassen, sieht man so gern hinein. Inmitten all der Blendwerke und Projektionsflächen, all der zugerichteten und zurecht gestutzten, patriarchal geprägten Wunschbilder von Weiblichkeit, die den US-amerikanischen Mainstream-Film prägen, wirken die Figuren Frances McDormands wie Querschläger.

Unabhängigkeitserklärungen, die allein mit ihrer Präsenz nicht nur zeigen, dass es anders geht. Sondern die vor allem auch beweisen, dass das, was an Rollenmodellen gemeinhin angeboten wird, meilenweit entfernt ist von der weiblichen Realität.

Das gilt selbst dann, wenn McDormand, wie in John Sayles‘ Lone Star (1996), nur einen minutenkurzen Auftritt als ziemlich durchgeknallt und hysterisch wirkender Football-Fan hat. Bunny heißt die Figur und ist die Ex-Frau von Sheriff Sam Deeds, der in diesem großen Film über die soziokulturellen Gegebenheiten in einer texanischen Grenzstadt einem dunklen Familien-Geheimnis nachspürt. Wenn man Bunny sieht, ununterbrochen plappernd und hibbelig herumhüpfend, dann fragt man sich, wie dieses unfokussiert zerzauste Energiebündel und der stoisch kontrollierte Mann jemals ein Paar sein konnten. Geradezu lächerlich und an der Grenze zur Karikatur agiert McDormand hier, bis sie am Ende der Szene mit einem Mal ganz ruhig wird und in zwei drei Sätzen nicht nur die Verletzung, Enttäuschung und Einsamkeit Bunnys zum Ausdruck bringt, sondern auch den sensiblen Charakter, der sich hinter der lauten Fassade ängstlich zu verbergen versucht.

Good Simple

Bunny ist im übrigen auch ein gutes Beispiel für Frances McDormands Rampensau-Potenzial. Die 1957 in Chicago geborene McDormand, die ihre Schauspielausbildung an der Yale School of Drama erhielt, wäre ohne weiteres dazu in der Lage, jede Szene zu stehlen und ihre Kollegen an die Wand zu spielen. Aber sie macht das nicht. Vielmehr ist sie ein geradezu ideales Ensemble-Mitglied, eine Akteurin, die, umgeben von starken Mitspielern, erst richtig glänzen kann und zur Geltung kommt. Auch in dem hochkarätig besetzten, episodisch strukturierten Ensemble-Film Short Cuts (1993) von Robert Altman beeindruckt sie nicht, weil sie sich in den Vordergrund drängt, sondern weil sie ihre Figur mit großer Sorgfalt aufbaut und dann mit zärtlicher Solidarität durch den narrativen Dschungel begleitet. Und neben dem Filmstar-Glamour, den Brad Pitt und George Clooney, ihre Partner in Joel und Ethan Coens Burn After Reading (2008) verstrahlen, besteht sie nicht, weil sie mittels exzentrischer Figurengestaltung noch eins drauf setzt, sondern weil sie diese Linda Litzke mit ihren Träumen von der körperlichen Rundumerneuerung und dem dann zwangsläufig eintretenden Glück so banal normal wirken lässt.

Young Frances McDormand in: Blood Simple
Blood Simple, 1984, Joel Coen

Man kann über Frances McDormand nicht sprechen, ohne über die Gebrüder Coen nicht wenigstens ein paar Worte zu verlieren, denn Leben und Karrieren der drei sind miteinander verknüpft. Ihren ersten größeren Erfolg feierte McDormand im ersten Film der Coens, Blood Simple (1984), der die Brüder wiederum zu einer festen Größe im US-amerikanischen Independent-Betrieb machte. In dieser Slow-Burn-Variante eines Film Noir gibt McDormand eine rosige, blauäugige, veritable Unschuld: Abby – ein „expensive piece of ass“, wie ihr Ehemann sie gegenüber seinem Nebenbuhler einmal bezeichnet – zieht die Männer, freilich ohne das zu wollen, ins Verderben. Es ist nicht zuletzt der Widerspruch zwischen der Lebendigkeit, Frische und Naivität der jungen Frau und den blutigen Verstrickungen, die sie auslöst, die diesen Film zu einer Tragikomödie machen, wie man sie derart rabenschwarz und bitterböse nur selten zu sehen bekommt. Abby verliert am Ende den Geliebten und kommt nur knapp mit dem Leben davon. Frances McDormand aber heiratet noch im selben Jahr Joel Coen und spielt seither immer mal wieder in einem seiner Filme mit, unter anderem in Raising Arizona (1987), The Man Who Wasn’t There (2001) und Fargo (1996). Letzterer bringt nicht nur Joel und Ethan Coen einen Oscar für das Beste Originaldrehbuch ein, auch Frances McDormand wird für ihre lakonische Darstellung der schwangeren Polizistin Marge Gunderson, die im eisigen Minnesota unbeirrt ein verwickeltes Verbrechen aufklärt, als beste Hauptdarstellerin ausgezeichnet.

Viel Gewese wurde seinerzeit um die Schwangerschaft dieser Figur gemacht. Als wäre eine Frau im siebten Monat unfähig, ihrer Arbeit nachzugehen. Das Erstaunen über die Selbstverständlichkeit, mit der Marge Gunderson ihren Platz behauptet und ihren Job erledigt, spiegelt den männlichen Blick auf das, was Frauen in Filmen so treiben. Es zeigt auch, wie wichtig die immer ein wenig neben den Erwartungen landende Arbeit einer Schauspielerin wie Frances McDormand ist.

Über das notorische Zurichtungs-Genre der so genannten Frauenfilme sagte sie einmal: „Most women‘s pictures are as boring and as formulaic as men‘s pictures. In place of a car chase or a battle scene, what you get is an extreme closeup of a woman breaking down. I cry too, maybe three times a week, but it‘s not in closeup. It‘s a wide shot. It‘s in the context of a very large and very mean world.“

Frances McDormand sorgt dafür, dass wir diesen Kontext wahrnehmen.

(Der Text entstand anlässlich einer McDormand-Filmreihe im Stadtkino Basel im November 2011.)