Wiederaufleben in der Kunst

Akira Kurosawas Meisterjahre

Seine Filme gelten als Inbegriff des japanischen Kinos. In seiner Heimat mitunter als „zu westlich“ wahrgenommen, zählte Akira Kurosawa nach seinem Durchbruch in den fünfziger Jahren zu den meistzitierten und -gepriesenen Regisseuren des internationalen Kinos. Das kam ihm in der zweiten Hälfte seiner fünfzigjährigen Schaffenszeit zu Gute: Als Mitte der Sechziger seine sozialkritischen Werke „Red Beard“ und „Dodeskaden“ in Japan auf Ablehnung stießen und der Geldfluss versiegte, waren es seine Verehrer aus New Hollywood – George Lucas, Francis Ford Coppola, Martin Scorsese und Steven Spielberg –, die ihm die Finanzierung seiner nächsten Projekte sicherten. So gelangen ihm mit den Schlachtengemälden „Kagemusha“ und „Ran“ weitere Meilensteine der Filmgeschichte.

In der fünften Episode von Akira Kurosawas Alterswerk Dreams (Yume, 1990) befindet sich ein Kunststudent, es ist ein Alter Ego des Regisseurs, in einer Vincent-van-Gogh-Galerie. Er imaginiert sich in eines der Gemälde, welches sich plötzlich zu bewegen beginnt, und macht sich, begleitet von Chopins Regentropfen-Prelude, auf die Suche nach dem Meister. Es wird eine kurze Begegnung. Van Gogh (kaum erkennbar dargestellt von Kurosawa-Adorant Martin Scorsese) wirkt hektisch auf der Jagd nach dem passenden Sonnenlichteinfall. Schroff verabschiedet er den Träumer, denn er habe „keine Zeit zu verschwenden“ – nicht ohne ihm lakonisch zu erklären, was es mit seinem verbundenen Ohr auf sich habe. Schließlich läuft Kurosawas Jungmaler buchstäblich durch die Landschaftsgemälde selbst und verirrt sich in ihnen. Erst über das Bild „Kornfeld mit Krähen“ findet er sich in der Galerie wieder. Kurosawas Traum endet also mit jenem Bild, in dem aufgescheuchte Krähen vor dunkel aufziehenden Wolken als Symbol des Unheils gedeutet werden können. Berühmt wurde das Gemälde denn auch als düstere Abschiedsphantasie des vereinsamten van Gogh kurz vor dessen Tod.

Dreams, 1990, Akira Kurosawa

Der Tod, Selbstmordgedanken, das Lebendigbleiben oder Wiederaufleben in der Kunst: Es hat seinen Grund, dass Kurosawa, der in jungen Jahren selbst gern Maler geworden wäre, von solchen Dingen gegen Ende seines Lebens immer drängender geträumt und diese Träume dann inszeniert hat. Die Unausweichlichkeit des Todes wirkt freilich schon in vielen seiner Filme vor Dreams leitmotivisch. In seiner Kindheit war Kurosawa von seinem Offiziersvater regelmäßig das über viele Generationen vererbte Samurai-Schwert der Familie präsentiert und er selbst in die Fechtkampfschule geschickt worden. Als 13-Jähriger wurde er – nach dem verheerenden Kanto-Erdbeben – von seinem vier Jahre älteren Bruder Heigo durch die Ruinen von Tokio geführt; angesichts der verbrannten oder im Fluss treibenden Leichen wollte er die Augen schließen, doch Heigo hielt ihn an, sie weit offen zu halten (so erzählt es Kurosawa in seiner Autobiografie, und so illustriert es Chris Marker in seinem schönen, motivisch geordneten Kurosawa-Porträtfilm A.K., welcher 1984 parallel zu den Dreharbeiten von Ran entstand). „Wenn du vor dem Schrecken die Augen verschließt, wirst du verschreckt zurückbleiben. Wenn du ihm in die Augen siehst, kann er dir nichts mehr anhaben“, habe der Bruder ihn gelehrt. Dass Heigo sich zehn Jahre später das Leben nahm, konnte Kurosawa nach eigener Aussage nie ganz verwinden.

A. K., 1985, Chris Marker

Ist also das Leben nichts als ein mehr oder weniger langer Abschied? Wenn dem so ist, dann war Kurosawa der begnadete Interpret dieses Gedankens. Er war beeinflusst von der Kunst des Westens, holte sich seine Erzählstoffe von Shakespeare oder Dostojewski, liebte Filme von John Ford. Durch seinen Erfolg mit Rashomon (1950) wurde der Westen erst wieder auf das japanische Kunstfilmschaffen aufmerksam, und damit auf Kurosawas ältere Vorbilder Kenji Mizoguchi und Yasujirô Ozu. Die Insel seiner Herkunft verließ er erstmals in höherem Alter, als er für sein hauptsächlich außerhalb Japans finanziertes Meisterwerk Ran (1985) auf Promotion-Tour ging. Es ist das vielleicht spektakulärste seiner zahlreichen Samurai-Epen, in denen machtversessene, eitle, archaischen Ehrenkodizes anhängende Fürsten ihr Volk in den Massenmord des Feudalkriegs schicken. In Kurosawas Filmen, die mehrfach im Westen für das Western-Genre kopiert wurden, herrscht oftmals Gewalt – sie spiegelt sich in der Härte der (anfänglich schwarzweißen) Fotografie, in der Expressivität der Gesichter und in harten Schnitten. Von Kurosawas Einsatz der Wischblende und mehr ließ George Lucas sich für die Star Wars-Trilogie inspirieren. Seine gewagten Gegenlichtaufnahmen waren ebenso einflussreich wie das innovative Mittel der Verlangsamung actionreicher Szenen.

Ran, 1985, Akira Kurosawa

In der zweiten Hälfte seiner Karriere ließ Kurosawas Produktivität nach, wohingegen sein Alkoholkonsum anstieg. Statt einen Film pro Jahr konnte er nur mehr alle fünf Jahre einen realisieren. Er selbst erklärte sich das mit der wachsenden Ablehnung seiner künstlerischen Kritik an der japanischen Gesellschaft, die ihre Freiheit und ihre Moral über Bord geworfen habe. Der Dreistünder Akahige (Red Beard, 1965) etwa, Kurosawas letzter Schwarzweißfilm und der letzte mit dem großen Toshirô Mifune, spielt in einem Tokioter Spital des 19. Jahrhunderts prototypisch soziale Ungerechtigkeiten durch – er wurde heftig kritisiert und ließ den Geldfluss für Kurosawas teure Filme versiegen. Danach scheiterten Projekte in Hollywood, mit der Eigenfinanzierung seines ersten Farbfilms Dodeskaden (1970) über die Bewohner eines Slums am Rande Tokios ruinierte Kurosawa sich finanziell, das Geld für den in Sibirien gedrehten Dersu Uzala (1975), eine bildgewaltige Parabel über den Zusammenstoß zweier Kulturen, kam dann ausschließlich aus der Sowjetunion. Dass Kurosawa noch einmal triumphal zurückkehrte und die Goldene Palme von Cannes gewann, hatte nicht zuletzt mit seinen Fans aus New Hollywood zu tun: Zwei der prominenten Financiers von Kagemusha (1980) hießen Francis Ford Coppola und George Lucas. Sie waren damals längst von Verehrern zu Freunden geworden. Zehn Jahre später koproduzierte ein gewisser Steven Spielberg Kurosawas meditativ-humorvolles Alterswerk Rhapsody in August (1991), worin ein gewisser Richard Gere aus Hawaii nach Nagasaki kommt, um schließlich mit seiner Tante den Jahrestag der Atombombenabwürfe zu begehen. Zwei Jahre darauf bewies Kurosawa mit Madadayo (1993), einer klugen Etüde über die Feier des Lebens und die Unausweichlichkeit des Todes, noch einmal seine meisterliche Autorschaft.

Kagemusha, 1980, Akira Kurosawa

Kurosawas Vorläufer der digitalen Schlachten-Epen der heutigen Filmindustrie sind heute nicht minder beeindruckend als zur Zeit ihrer Entstehung. Es sind wie bewegte Gemälde komponierte Farbfilme. Der von „King Lear“ inspirierte Ran ist farbsatt von bunten Gewändern und grünen Feldern, die zertrampelt werden von galoppierender Kavallerie, auf die im Zuge bluttriefender Schlachten wechselweise Feuerpfeile oder der Zorn der Götter in Form von Gewitterstürmen niederhageln. Ran schwelgt aber auch in höfisch theatralen Ritualen, freut sich an verschwenderischer Opulenz und treibt das Drama um eine kriegerische Thronnachfolge bis an die Grenze des Erträglichen. Die Schlachtentableaus sind mit verstörend sanfter Musik unterlegt; ein frappierendes Kontrastprinzip, das sich nicht zufällig auch in den exzessiven Gewaltszenen der späteren Mafia-Epen von Martin Scorsese verwirklicht findet. Zehn Jahre trug Kurosawa den Film in seinem Kopf, bevor er ihn realisieren konnte. Nicht minder wuchtig und ebenso sehenswert ist Kagemusha, den man als eine Art Vorbereitungsfilm für Ran sehen kann. Hier kommt noch eine Lust an der Posse hinzu, denn ein Doppelgänger aus niederem Stand, Knallcharge und Kleinkrimineller überdies, soll den Tod eines Fürsten camouflieren, indem er in dessen Rolle schlüpft. Letztlich dekuvriert er alle Beteiligten im Wesentlichen als Narren, bevor er selbst entlarvt wird – von einem Pferd.

Loving Vincent, 2017, Dorota Kobiela, Hugh Welchman

Zurück zu dem philosophisch-ökologischen Meisterwerk Dreams. Hier hat Kurosawa, der den japanischen Herrschertitel „Tenno“ als ironisch-respektvollen Spitznamen trug, all sein Können zu acht Kurzfilmen kompiliert. Er versetzt sich u.a. in die Rolle eines verantwortlichen Offiziers, der mit seiner gefallenen Kompanie konfrontiert wird, oder in jene eines Bergführers, dem im Schneesturm eine spirituelle Begegnung zum Überleben verhilft. Doch aus heutiger Sicht erstaunt vor allem die sechste Episode von Dreams, denn sie prophezeit eine nukleare Katastrophe, wie sie für die Japaner später in Fukushima Gestalt annehmen sollte. Und wer am nachhaltigen wie umfassenden Einfluss Kurosawas zweifelt, der sei noch einmal auf die eingangs beschriebene Episode fünf verwiesen: Für den Animationsfilm Loving Vincent, der mit 65.000 Ölgemälden im Stile van Goghs operiert und zu Recht den Europäischen Filmpreis 2017 erhielt, diente „Krähen“ von A.K. nämlich als wesentliche Inspiration.

(Ran, Kagemusha und Dreams sind gegen geringes Entgelt bei Amazon Prime zu sehen bzw. auf Disc erhältlich.)

(Der Text erschien anlässlich einer Kurosawa-Filmreihe im Stadtkino Basel im Mai 2018.)