Ein lichtes Musical und ein weiblich-dunkler Spitzen-Film, eine düster-interessante Halb-Teenie-Serie und eine ganze zum Vergessen. Sofa Surfing zwischen Sky und Netflix.
Der Broadway-Musical-Adaption In the Heights (Sky) ging es vor einem halben Jahr im Kino ähnlich wie unlängst Steven Spielbergs West Side Story-Auffrischung: Bei den Kritiker:innen hoch beliebt, beim Publikum nicht ganz so, jedenfalls nicht genug, um sein Geld wieder einzuspielen. Dabei gehören solche Filme auf die große Leinwand, gerade die schwungvollen ersten zehn Minuten samt Massentanz-Szene auf der Straße im Latino-Grätzel von New York sind nicht nur für einen Meter Bildschirmdiagonale oder weniger choreografiert. Überhaupt ist das ein Energiebündel von einem Film (Regie wie bei Crazy Rich Asians: Jon M. Chu, Text und Musik wie bei Hamilton: Lin-Manuel Miranda): Soviel kommunale Lebensfreude und vitale Flirterei und trotz Armut Ja zum Leben sagen und Stehaufweibchen-Mentalität (und natürlich auch Diversity!) gibt es im gegenwärtigen Kino ja selten ohne Kitschkopfschmerzen zu haben. Wir sparen uns hier die Handlung und betonen das dieser Feelgood-Mechanik inhärente Kunststück, Old School Hollywood bruchlos mit modernster Coca-Cola-Werbeästhetik zu amalgamieren. Mirandas Regiedebüt, das Meta-Musical Tick, Tick … Boom!, gibt es übrigens auf Netflix.
Sollte es nicht eh allen klar sein: Olivia Colman zählt zu den ausdrucksstärksten Schauspielerinnen unserer Zeit; in dem entrückten Anti-Urlaubsfilm The Lost Daughter (Netflix) stellt sie es erneut unter Beweis. Basierend auf dem gleichnamigen Roman von Elena Ferrante, trifft es ausnahmsweise der deutsche Titel Frau im Dunkeln eher: Auf einer griechischen Insel samt zugehörigem Personal (u.a. gespielt von Dakota Johnson und Ed Harris), geht es zwar zwischendurch um eine buchstäblich verlorene Tochter; viel mehr aber geht es um eine verloren gegangene Puppe und was die von Colman faszinierend mehrschichtig angelegte Titelfigur, die alleinstehende Literaturprofessorin Leda aus Cambridge, damit anstellt. Dass Leda ein dunkles Geheimnis mit sich herumschleppt, aber vor allem, wie sie es schleppt (und in welchen Rückblenden die Last allmählich spürbar wird), gibt dem atmosphärisch und spannungstechnisch erstaunlichen Regiedebüt von Maggie Gyllenhaal sein dramatisches Gewicht. Gyllenhaal ist ja selbst auch so eine wunderbare Schauspielerin, zumal in David Simons grandioser historischer Porno-Business-Serie The Deuce (Sky) kann man ihr stundenlang zusehen.
Mir immer noch nicht klar ist, wie der Netflix-Algorithmus funktioniert. Oder vielleicht ist mir nicht klar, wie Österreichs Netflix-Publikum funktioniert: Wie kann The Lost Daughter (und das völlig zurecht) noch in der Vorwoche global auf Platz drei der englischsprachigen Netflix-Filme klassiert sein, in Österreich aber schon ein paar Tage später aus dem Top-Ten-Ranking fallen? Sofa Surfing kann sehr kompliziert sein. Weniger mysteriös ist, dass das neue Netflix-Original Kitz derzeit angeblich auf dem ersten Platz der Beliebtheitsskala in Österreich weilt, denn Kitzbühel ist natürlich eine quotenträchtige Gams. Daher ein kleiner Warnhinweis: Diese Teenie-Serie, angesiedelt in der Teenie-Schickeria („Nachwuchs-Hautevolee“ würde Norbert Hofer ev. dazu sagen) des „Aspen der Alpen“, ist eine Katastrophe. Bereits innert zwei Minuten, spätestens aber nach zwanzig, entpuppt sie sich als extrem unterfordernd für Teenies, Twens und eigentlich alle, die mehr von einer Serie wollen als schummelpapierene Dialoge. Wenn schon Klassenfahrt, hier eine Empfehlung für Harry Potter-Nostalgiker:innen: Return to Hogwarts (Sky) versammelt die Acting Crew von damals am Originaldrehort, den Warner Studios in London – Achtung, Anmutung Maturatreffen!
Apropos. Eine wesentlich interessantere Serie als Kitz, die zur Hälfte ebenfalls im Teenie-Milieu spielt, sich nämlich zur Hälfte um eine Mädchenfußballmannschaft dreht, ist Yellowjackets (Sky). Die andere Hälfte verfolgt Teile dieser Mannschaft, die infolge eines Flugzeugabsturzes auf einer einsamen Insel zerfallen ist, 25 Jahre später, sprich: heute. Also irgendwie auch ein Maturatreffen. Zum wiederholten Mal drohen düstere Geheimnisse von damals, welche dunkel an William Goldings „Lord of the Flies“ („Herr der Fliegen“) gemahnen, gelüftet zu werden. Die jungen Frauen werden ernst genommen, beide Erzählebenen sind geschickt ineinander montiert und die Spannungsbögen ordentlich geschwungen, soviel lässt sich nach vier Episoden Yellowjackets bereits sagen, aber vor allem das Casting der Älteren ist ein Coup: Wer wieder einmal Juliette Lewis und Christina Ricci in so tragenden wie verhaltensoriginellen Rollen sehen will, noch dazu in reibungsvollen gemeinsamen Szenen, und dazu Melanie Lynskey (die im Alter ihres jungen Fußballerinnen-Ichs gerade in Peter Jacksons Heavenly Creatures debütierte), wird nicht enttäuscht sein. So macht Sofa Surfing Spaß, wir bleiben dran.
Bonus-Tipp (Netflix): Aus dem Jahr 2020 stammt ein bislang unterbelichteter, höchst effektvoller britischer Horrorfilm, den wir hiermit zum Starken Stück adeln: His House, das Regiedebüt von Remi Weekes.