Not in the mood

Steven Spielberg und sein West-Side-Story-Flop

West Side Story, 2021, Steven Spielberg

Ich weiß nicht, ob es so etwas wie ein großartiges Remake gibt, aber West Side Story kommt ziemlich nah ran. In einem für Filme sehr seltsamen Jahr ist das Scheitern von Steven Spielbergs absolut schönem Remake der 1961er-Adaption des Broadwaymusicals von 1957 vielleicht die merkwürdigste Entwicklung von allen.

Der neue Film des legendären amerikanischen Regisseurs ist spektakulär an der Kinokasse gefloppt und zählt mittlerweile zu den größten Bauchflecks des Jahres. Unterdessen haben ihn Kritiker als einen der besten heurigen Filme und Oscar-Anwärter gefeiert. Peter Bradshaw vom Guardian nannte ihn eine „raffiniert modifizierte und visuell atemberaubende Wiederbelebung“. Wenn also ein guter Film eines der bekanntesten Hollywood-Regisseure das Publikum nicht dazu bringen kann, ins Kino zu gehen, was dann?

West Side Story spielte nur 10,5 Millionen US-Dollar am Eröffnungswochenende ein. Sobald die Zahlen online aufgetaucht waren, hatten Social-Media-Nutzer und Fans viel zum Debakel an den Kinokassen zu sagen. Einige glauben, die Macher hätten die Situation falsch eingeschätzt und den Zeitgeist verfehlt, indem sie Spielbergs Musical nicht zum Streaming angeboten haben, während andere der Meinung sind, dass der Film katastrophal vermarktet wurde. Einige glauben, dass die Vorwürfe sexueller Belästigung gegen Ansel Elgort, der im Film den Tony spielt, zentral für die niedrigen Einspielergebnisse sind, während wieder andere der Meinung sind, dass das Genre des Filmmusicals generell seinen Zenit überschritten habe. Auch In the Heights und Dear Evan Hansen sind gefloppt.

Es ist eine Tatsache, dass die Branche sich immer noch erholen muss, und jeder einzelne Film wurde von der Pandemie beeinflusst. Doch einige der größten Flops an den Kinokassen des Jahres zeigen, wie die Pandemie das Filmgeschäft möglicherweise langfristig verändert hat. Für viele Menschen gibt es mittlerweile zwei Arten von Filmen: die, für die man ins Kino geht, und die, die man lieber zu Hause ansieht.

Zu erstgenannten zählten auf alle Fälle in diesem Jahr Superheldenfilme wie Shang-Chi and the Legend of the Ten Rings und Venom 2;  der neue James Bond und der neunte Teil der Fast & Furious-Saga. Und natürlich Spider-Man: No Way Home, der größte Umsatzbringer des Jahres und der erste Film seit Star Wars: The Rise of Skywalker im Dezember 2019, der die Milliarden-Dollar-Marke überschritten hat. Das Muster ist ziemlich klar und ebenfalls nicht mehr ganz neu: Jeder der zehn umsatzstärksten Filme des Jahres ist Teil eines Franchise – mit Ausnahme von zwei chinesischen.

Spider-Man: No Way Home, 2021, Jon Watts

Es gibt Veränderungen im Zuschauerverhalten, die Steven Spielberg einfach nie hätte erahnen können, als er 2019 mit seiner West Side Story begann. Ältere Kinobesucher kehren am langsamsten in die Kinos zurück. Das spiegelt einen Trend wider, der bereits vor der Pandemie aufgetreten ist. IP-gesteuerte Veröffentlichungen, die eine jüngere Zielgruppe ansprechen – hauptsächlich mit Superhelden – erzielen das größte Geschäft. Serien-Hypes wie jener um Squid Game tun ein Übriges.

West Side Story ist ein Musical aus dem Jahr 1957 mit Musik von Leonard Bernstein und angestaubten Texten von Stephen Sondheim, die vielleicht immer noch großartig, aber altmodisch sind. Maria ist immer noch „Mariiiaa!“ und Tony singt „Tonight“ unter ihrer Feuerleiter. Es ist ein Nostalgiefilm, der sich an Boomer richtet, die mit dem Original aufgewachsen sind, und dieses Publikum scheint sich in den Kinos gerade nicht wohl zu fühlen, besonders wenn die Omikron-Variante tobt. Das Branchenblatt Variety schreibt: „Diese Menschenmengen zurück auf die große Leinwand zu bringen, wird der Schlüssel zur Wiederbelebung des Kino-Ökosystems sein“.

Natalie Wood, Richard Beymer in: West Side Story, 1961, Robert Wise

Der Regisseur von Filmen wie Jaws und Jurassic Park war früher der Meister der ganz groß angelegten Filme, die Massenanziehungskraft hatten und die über 35-Jährige in Scharen anzogen. Vielleicht wird Spielbergs „Marke“ heute einfach nicht mehr als so relevant wahrgenommen oder vielleicht ist er nicht mehr der Seismograf des Massengeschmacks. Wenn aber eine von der Kritik akklamierte Musical-Adaption wie West Side Story an den Kinokassen floppt, dann hat nicht nur Spielberg einen großen Teil seines älteren, erwachsenen Publikums verloren, sondern möglicherweise auch die Kinos.