Nicht mehr nur für Cinephile

Die Social-Media-Film-App Letterboxd ist seit Beginn der Pandemie explodiert.

The Power of the Dog, 2021, Jane Campion

Ich gebe zu: Ich war eine Spätzünderin. Ich kann mich genau daran erinnern, als ich im vergangenen Jahr mit einem Freund in einer Bar saß, und er mich fragte, ob ich Letterboxd nutze. Ich hatte schon oft von der Website Letterboxd und ihrer App gehört, habe aber wieder mal den Kopf geschüttelt und abgewinkt. „Aber du bist Filmkritikerin!“ schrie er entrüstet.

Ich habe diese Reaktion schon oft bekommen. Ich liebe Filme, aber ich bin ein Social-Media-Muffel. Weil ich aber wissen wollte, was der ganze Wirbel soll, ging ich nach Hause und lud die App runter, die es bereits seit mehr als zehn Jahren gibt. Ich muss zugeben: I am intrigued.

Was als ein Leidenschaftsprojekt der zwei Neuseeländer Matthew Buchanan und Karl von Randow für Hardcore-Cinephile begann, verändert die Online-Landschaft der Filmkultur – zum Besseren. Die Plattform entstand aus der Frustration der Schöpfer heraus, dass es kein soziales Netzwerk für Filmliebhaber:innen gab. Letterboxd ist eine Kombination aus IMDb, Rotten Tomatoes, JustWatch und Instagram. Der Name leitet sich vom Begriff „Letterboxing“ ab – im Breitbildformat aufgenommene Filme werden in Videoformate mit Standardbreite übertragen, wobei das ursprüngliche Seitenverhältnis beibehalten wird.

Die App wurde nie wirklich in die Welt hinausposaunt. Ihr Wachstum war seit 2011 eher langsam. Aber dann sperrte uns die Pandemie in unsere vier Wände ein, und Letterboxd wuchs explosionsartig. „Das Social-Media-Netzwerk hat die cinephile Nische endgültig verlassen und ist in den Mainstream eingetreten“, schrieb die New York Times. Anfang 2020 gab es auf Letterboxd etwa 1,7 Millionen Nutzer:innen. Diese Zahl hat sich innerhalb eines Jahres fast verdoppelt, auf über 3 Millionen. Matthew Buchanan teilte mir in einer Email mit, dass die Site momentan fast 6 Millionen Mitglieder weltweit hat, darunter 250.000 in Deutschland und etwa 17.000 in Österreich. Inzwischen hat Letterboxd auch eine eigene Redaktion, veröffentlicht Artikel und Interviews und hat einen Podcast.

Der Kritiker von IndieWire, David Ehrlich, ist mit über 100.000 Followern derzeit einer der beliebtesten User. Sean Baker, Regisseur von Red Rocket und The Florida Project, ist auch vorne mit dabei. (David Ehrlich findet Red Rocket übrigens ziemlich super.) Aber natürlich müssen Sie weder Filmkritiker noch Filmemacherin sein, um Letterboxd zu nutzen. Im Gegenteil. Während Sites wie Rotten Tomatoes die Meinungen der Kritiker:innen von jenen der Allgemeinheit trennen, stellt Letterboxd keine Meinung über eine andere. Die Pandemie hat die Migration vom Kino auf die Couch und die Erweiterung der Filmkritik von der Berufung zum Hobby beschleunigt – auch das zeigt sich in der App.

Der Kommentar einer beliebten Nutzerin namens BRAT zu Jane Campions The Power of the Dog lautete: „the masculine urge to cope with your step uncle’s pointed homophobia by storming outside and aggressively hula-hooping”. Ein anderer schrieb: „you don’t know true humiliation until you try to play the piano and get upstaged by a banjo”. An beiden ist was dran.

Viele schreiben alles klein. Es gibt oft nicht einmal Punkte. Aber viele fangen die Essenz eines Films mit nur wenigen Worten ein. Das Fehlen von Regeln kann zu interessanter Kritik führen. Und diese anarchische Art des Schreibens findet man eigentlich nur auf Letterboxd. Natürlich existiert hier auch Arthouse neben Mainstream. Der beliebteste Film ist momentan Parasite, der am besten bewertete Twenty One Pilots: Livestream Experience und der „most anticipated“ Film ist Thor: Love and Thunder. Apropos 21 Piloten:

Die Popularität der App ist auch dank des viralen Erfolgs von humorvollen Tagebucheinträgen gestiegen. Einer der berüchtigtsten Posts ist ein Kommentar zu Todd Phillips Joker. Der wurde sogar zu einem Meme, nachdem Nutzer „CloserLook“ kommentierte: „This happened to my buddy Eric.“

Es gibt unterhaltsame, personalisierte Listen mit Titeln wie „for when you want to feel something“ oder auch einfach eine Liste von Filmen, bei denen die Schauspieler:innen auf Filmplakaten nach links schauen. Der Titel: „Giant fucking faces looking slightly to the left“. Wer zum Beispiel auf Fight Club klickt, wird von der App auf eine separate Seite geschickt, die dem Film von David Fincher gewidmet ist. Dort findet man Infos über die Handlung, das Erscheinungsdatum, die Besetzung, wo man den Film streamen kann und so weiter. Man findet auch eine Unmenge kurzer und längerer Rezensionen (76.000, um genau zu sein), die von anderen Nutzer:innen geschrieben wurden. So kreiert Letterboxd Kaninchenlöcher, in die man hineinfällt. Kostenlose Konten haben viel Werbung von Drittanbietern, was lästig sein kann, aber „Pro“- und „Patron“-Konten sind werbefrei und bieten mehr Service.

Mir persönlich gefällt das Tagebuch am besten. Eine Aufzeichnung zu haben, wann ich welchen Film gesehen habe. Ich kann genau sagen, wann ich durch eine New Hollywood-Phase gegangen bin, und wie glücklich ich war, als ich mir Dementia 13 angesehen habe, obwohl das wirklich nichts damit zu hat, dass ich das Regiedebüt von Francis Ford Coppola für einen seiner besten Spielfilme halte. Auch darüber kann man sich auf Letterboxd streiten.