Netflix-Hofknicks

„The Crown“, S5: noch mehr Kontroverse um Fakt und Fiktion

The Crown, S5, Peter Morgan
The Crown, 2016–, Peter Morgan © Netflix

Es gibt eine Szene in der neuen Staffel von The Crown, in der Charles seiner nunmehrigen Ex-Frau Diana einen unerwarteten Besuch abstattet und sie ihm eine Eierspeise macht. Die beiden führen an ihrem Küchentisch eine ehrliche Autopsie ihrer gescheiterten Ehe durch. Eine Zeit lang sind sie fast wie Freunde, flirten und lachen. Die Szene ist trashiger als der Matsch, den Charles da isst. Sie ist auch sehr wahrscheinlich frei erfunden.

Routinemäßig spult sich jedes Jahr wegen Szenen wie dieser die gleiche Kontroverse um das Kronjuwel von Netflix ab, aber in diesem Jahr geht die Auseinandersetzung tiefer denn je. Bisher hatten wir den ehemaligen Premierminister John Major (gespielt von Jonny Lee Miller), der die Serie als „als Tatsache vorgeführte Fiktion“ beschrieb, während sein Nachfolger Tony Blair (gespielt von Bertie Carvel) sie als „kompletten Müll“ beschimpfte (nämlich im Guardian).

Schauspielerin Judi Dench hat dem Drama in einem offenen Brief an die Times „grobe Sensationsgier“ attestiert und hinzugefügt, dass die fiktiven Berichte über historische Ereignisse „auf eine grausame Art ungerecht“ gegenüber der königlichen Familie und „schädlich für die Institution, die sie repräsentieren“, seien. Natürlich liegt eine gewisse Ironie darin, dass ausgerechnet eine Frau, die für ihre Rolle als Elizabeth I. in dem Film Shakespeare in Love (1998) einen Oscar als beste Nebendarstellerin gewann, auf historische Genauigkeit besteht. Aber Netflix hat einen Hofknicks gemacht und stellt The Crown jetzt unter dem Trailer zum ersten Mal als „fiktive Dramatisierung“ in Rechnung.

Spielt The Crown bzw. ihr Schöpfer Peter Morgan wirklich zu locker mit den Fakten? Jedes Drama, an dem echte Menschen beteiligt sind, ist bis zu einem gewissen Grad Fiktion. Als Charles und Diana einander in die Augen starrten und merkten, dass es vorbei war, war niemand sonst im Raum – es war vermutlich auch keine Eierspeise involviert. Die Frage, wann eine Geschichte etwas Wahres erzählt, kann Anlass sein, über die Wahrheit von Geschichten an sich nachzudenken. Und was wollen wir eigentlich von einer Serie wie The Crown: die „Fakten“ oder die interessanteste Interpretation der Geschichte? Natürlich ist Peter Morgan nicht der erste, der das Leben der britischen Royals dramatisiert. Shakespeare zum Beispiel fand viel Wahrheit in der Fiktion. Zuletzt hat Kristen Stewart Diana gespielt, in Pablo Larraíns sehr freier Bearbeitung Spencer (2021).

Vieles von dem royalen Wirbel hat mit Timing zu tun. Einige der Personen, die in der neuen Staffel vorkommen, sind noch am Leben. Sie konzentriert sich auf die 1990er Jahre, ein Jahrzehnt, an das sich außerdem viele Zuschauer:innen noch erinnern können, und eine Zeit beträchtlicher Skandale für das Haus von Windsor. Klar: Nur kurze Zeit, nachdem der echte König Charles den Thron bestiegen hat, will er vielleicht nicht unbedingt an das pikante Schmuddel-Telefonat des „Tampon-Gate“ erinnert werden (als er zu Camilla sagte, er wolle als ihr Tampon wiedergeboren werden). So etwas kann man nicht erfinden.

Es mag fiktionalisiert sein, aber The Crown vermittelt eine Menge dessen, was tatsächlich passiert ist: Queen Elizabeths „Annus Horribilis“ 1992, als sich drei ihrer vier Kinder von ihren Partnern trennten; den Rosenkrieg zwischen Charles und Diana und ihr Fernsehinterview mit der BBC. Die neue Staffel dreht sich jedoch im Guten wie im Schlechten letztendlich um Charles (gespielt von Dominic West), der darauf wartet, dass seine Mummy endlich stirbt – was natürlich taktlos in Anbetracht der Tatsache scheint, dass die Queen erst vor zwei Monaten tatsächlich gestorben ist.

The Crown, Peter Morgan
Dominic West, Elizabeth Debicki in: The Crown, S5

Die Royals selbst haben sich nie direkt zur Serie geäußert – mit Ausnahme von Prinz Harry, der James Corden sagte, die Serie sei eindeutig „Fiktion“ und er selbst sei viel mehr besorgt darüber, dass Zeitungen Lügen über ihn und seine Familie verbreiten und als Tatsache verkaufen (hier das zugehörige Video). Das mag eine vernünftige Einstellung sein, vielleicht unterschätzt sie auch die diffuse Publikumswirkung des Schnittstellenfernsehens zwischen Realität und Fiktion. Vielleicht hat Harry aber auch nur einen eigenen Interessenkonflikt dabei im Sinn: den Multi-Millionen-Dollar-Produktionsvertrag von Harry und Meghan mit Netflix. Ihre umstrittene Doku wurde eben erst von Dezember auf 2023 verschoben.

Fürs Protokoll: Wie viele Filme oder Serien mit dem Tag „based on true events“ ist The Crown keine Nacherzählung der Geschichte und hat dies auch nie behauptet. Es gibt einige Dokumentarfilme über die Royals, die fragwürdiger sind als dieses Drama. Aber nicht ganz verständlich ist, warum Netflix sich gar so lange um eine prominent platzierte Klarstellung bitten hat lassen. Im Jahr 2020 forderte der ehemalige britische Kulturminister Oliver Dowden den Streamer auf, The Crown mit einem Disclaimer zu versehen. Es gebe eine „moralische Verantwortung“, den Zuschauern klar zu machen, dass es sich um ein Drama und nicht um historische Fakten handelt, räumte auch die Schauspielerin Helena Bonham Carter in einem Podcast ein. Netflix blieb hart.

Hat Judi Dench also recht? Ja, in dem Sinne, dass The Crown auch „Sensationsgier“ ist. Es ist auch gutes Fernsehen, viele Preise und für gewöhnlich serienferne Publikumsschichten unterstreichen das. Bis jetzt hat Peter Morgan das seltene Kunststück vollbracht, dass sein stattliches Drama, eben eine Mischung aus realer Gesellschaftspolitik und schicker Fantasie, mit jedem Mal besser wurde. Die neue Staffel rutscht nun etwas in den Kitsch ab. Doch wird ein einfacher Disclaimer die Leute davon abhalten zu denken, dass das, was sie sehen, nicht wahr ist?