Aus der Vogel-Perspektive

Amos Vogel zum 100.

Visitenkarte Amos Vogel
Amos Vogel Visitenkarte

Retrospektive beim New York Filmfestival, das er einst mitbegründet hat, Hommage im Filmmuseum des Landes, aus dem er einst vertrieben wurde: Amos Vogel, der große Subversive, wäre heuer hundert geworden.

An einer Stelle im Dokumentarporträt von Paul Cronin zeigt Amos Vogel begeistert auf die Nahaufnahme einer Fliege. „Oh my God, that fly! Es ist eine fantastische Errungenschaft.“ Man muss ihn einfach lieben, diesen Bilderstürmer.

Aber womöglich hält nicht jeder die Fotografie einer Fliege für künstlerisch wertvoll – was durchaus legitim ist. Einige beschränken das Kunst-Label möglicherweise auf Avantgarde-Kino und europäische Arthouse-Filme, während andere dazu neigen, die Kategorie um Hollywood-Oscar-Futter zu erweitern. Typischer ist die Ansicht, dass alle oder die meisten Filme Kunst sind. Demnach gibt es keine prinzipielle Möglichkeit, die Grenze zwischen beispielsweise einem dreieinhalbstündigen Mafiaepos wie The Irishman und einem Softporno wie 365 Days zu ziehen, beides Filme, die in Harmonie auf Netflix koexistieren.

Heutzutage ist es schwer, jemanden zu finden, der ernsthaft die Behauptung verteidigen würde, dass Film keine Kunst sei, aber zu Zeiten von Amos Vogel, in den Fünfzigern, war diese Idee noch sehr umstritten. Natürlich gelten heute einige Filme als Kunstwerke und andere nicht. Nur wenige würden bestreiten, dass Der Würgeengel von Luis Buñuel als Kunst zu qualifizieren ist, während viele Hemmungen hätten, diese Ehrung auf den durchschnittlichen Marvel-Blockbuster anzuwenden (Martin Scorsese, anyone?) Aber wo, wenn überhaupt, sollten wir die Grenze ziehen? Und was wollen wir, dass Filme sind?

In einer Kolumne der New York Times aus dem Jahr 2019 beklagte Martin Scorsese, wie moderne Film-Franchises entstehen. „Sie werden marktrecherchiert, publikumsgetestet, überprüft, modifiziert, überarbeitet und neu modifiziert, bis sie konsumreif sind“. Alles gute Punkte; Amos Vogel hätte Scorsese wohl zugestimmt.

Weil er heuer hundert Jahre alt geworden wäre, widmet man Vogel in der ganzen Stadt diesen Herbst eine Hommage – so auch im Österreichischen Filmmuseum.

„Wenn Sie nach den Ursprüngen der Filmkultur in Amerika suchen, sind Sie bei Amos Vogel genau richtig“, hat Scorsese einmal gesagt. Die gegenwärtige Filmkultur in New York existiert in vielerlei Hinsicht wegen diesem in Wien geborenen Kritiker und Kurator, der den New Yorkern Filme bot, „die man anderswo nicht sehen konnte“. Filme, die subversiv sind; die Erwartungen untergraben. Kunst. Das konnte ein Kurzfilm des französischen Regisseurs Georges Franju sein, der Szenen aus einem Pariser Schlachthof zeigte; oder ein stummer, schwarzweißer Experimentalfilm mit dem Titel The Private Life of a Cat, der als „obszön“ verboten wurde, weil er explizit die Geburt von Kätzchen zeigte (uncredited: Alexander Hammid, Maya Deren, hier eine „Purrfect“-Version auf Youtube).

Es war nicht so, dass es für Vogel keine kunstvollen Hollywood-Filme gab (er lud auch Alfred Hitchcock ein, der ihn mit einem Vorgeschmack auf den gerade fertiggestellten The Man Who Knew Too Much überraschte). Allerdings fand er im unabhängigen Kino „eher eine Stimme, eine Person, die mit mir spricht, als ein Komitee“.

„Seid unbequem, seid Sand, nicht das Öl im Getriebe der Welt.“ Diese Zeile aus Günter Eichs Gedicht „Wacht auf“ hing viele Jahre auf einem Zettel an einer Pinnwand über dem Schreibtisch von Amos Vogel (jeder, der eine Vogel-Einführung braucht: Das Filmmuseum in Wien hat ein hervorragendes Buch herausgebracht). Daneben hing ein Bild von Egon Schiele und eines von Sigmund Freud. Ein Stück Österreich, wo er geboren ist, bis er, weil er Jude war, im Alter von siebzehn Jahren fliehen musste, als die Nazis kamen.

Ankunftsbild Amos Vogel in Kuba
Amos Vogel in Kuba, 1938

Das beeinflusste auch seinen Filmgeschmack. Vogel hatte eine klare politische Absicht: „den Kräften Hollywoods entgegenzuwirken“, die manipulative Maschinerie aufbrechen. Er hatte einen ungemeinen Einfluss auf die Filmkultur in Amerika. Er gründete im Jahr 1947 den Avantgarde-Filmverein Cinema 16 und im Jahr 1963 begründete er das erste New York Film Festival, das heuer zum 59. Mal über die Bühne ging (obwohl der unabhängig gesinnte Vogel nur fünf Jahre dabei blieb, weil das Festival seinem Geschmack weniger entgegenkam).

Eröffnet hat er damals mit Luis Buñuels Der Würgeengel, ein Film, der den durchschnittlichen Kinobesucher zum Umdenken zwingt. Er warnte auch davor, dass einige den Film als „verstörend“ empfinden könnten und dass er möglicherweise überhaupt keinen Sinn ergibt. Also ganz im Vogel’schen Sinne.

Nach eineinhalb Jahren auf der Couch definieren wir unsere Beziehung zu Filmen vielleicht neu. Wir suchen in der Kunst nach Sinn. Wir suchen, denke ich, wo wir selbst gefunden werden. Und es gibt einiges, das ein Algorithmus nicht replizieren kann – wie zum Beispiel einen Mann, der sich dem Unerwarteten auf der Leinwand und im Leben stellte.

 

Film as a Subversive Art 2021
A Tribute to Amos Vogel

kuratiert von Nicole Brenez | Hirasawa Go | Kim Knowles | Birgit Kohler | Roger Koza | Nour Ouayda

Österreichisches Filmmuseum, noch bis 25. November

Weiterführende Recherche:

https://www.filmmuseum.at/bibliothek/amos_vogel_library