1899

Deutsches Fernsehen, made in America

Friese, bo Odar, 1899
1899, 2022–, Baran bo Odar, Jantje Friese

„1899“: Die Namen der Autorin Jantje Friese und des Regisseurs Baran bo Odar sind zum Synonym für neues Deutsches Qualitätsfernsehen geworden. Das Geld und die Vorbilder stammen aus den USA.

Die einen haben sie als zu verkopft verflucht. Die anderen haben sie gerade dafür geliebt. Die Serie Dark war nicht nur die erste deutsche Serie für den US-Streamer Netflix, sondern läutete für viele, so auch die New York Times, eine neue Ära in der deutschen Unterhaltungsindustrie ein.

Es dauerte eine Zeit lang, bis Dark ein internationaler Erfolg wurde, aber durch Mundpropaganda wurde die Serie von Jantje Friese und Baran bo Odar zu einem der größten Erfolge von Netflix und brachte dem Streamer den Grimme-Preis ein. Zwei Jahre nach dem Finale ist das Duo mit dem Achtteiler 1899, einem größeren Budget und der schweren Last der großen Erwartung auf den Schultern zurück. Rund 50 Millionen Euro soll die neue Mystery-Serie gekostet haben. Damit löst sie das Sky-ARD-Prestigeprojekt Babylon Berlin, das in den USA auf Netflix ausgestrahlt wird, als bislang teuerste deutsche Serie ab.

Fries, Babylon Berlin
Babylon Berlin, 2017–, Henk Handloegten

Früher hatten es nur wenige Serien aus Deutschland über den Atlantik geschafft. Die Bundesrepublik war bekannt für altbackene Krimiserien, schlechtes Reality-TV, Soaps, und Shows wie Wetten dass, die das ZDF vergangenes Wochenende wieder einmal aus der Versenkung holte (mehr als 10 Millionen Menschen haben eingeschaltet, fast 4 Millionen weniger als 2021, und unter uns gesagt sind selbst das noch viel zu viele).

Das Image des deutschen Fernsehens im Ausland änderte sich 2015, als Deutschland 83, ein Spionagedrama, als erste deutschsprachige Serie auf einem US-Sender (Sundance TV) ausgestrahlt wurde. In Großbritannien war die erste Folge das am besten bewertete untertitelte Drama in der Fernsehgeschichte des Landes. Die Serie, so der Guardian, sollte „den Stolz des deutschen Fernsehens wiederherstellen“; in Deutschland selbst blieb sie eher ungeliebt.

Und dann kamen Babylon Berlin und eben vor allem Dark. „Das sieht gar nicht aus wie eine deutsche Serie“ war ein Satz, der in Konversationen über die Serie auf Netflix oft fiel. Der Stil von Jantje Friese und Baran bo Odar war nicht der einer typischen deutschen Serie. Es war eine Mystery-Sci-Fi-Serie, die mit beachtlichem World Building und einem großen Budget geschaffen wurde und ihren teuren US-Kollegen in nichts nachstand. „Ich glaube nicht, dass die Amerikaner ein Monopol auf gute Bilder haben”, hat Jantje Friese einmal zu mir gesagt. Sie hat natürlich recht, aber man war es nicht gewohnt. Science Fiction wird einfach nicht oft fürs deutsche Fernsehen gemacht. Es ist teuer. Und hier kommt der amerikanische Streamer mit seinen (vermeintlich) bodenlosen Budgets ins Spiel.

Friese, bo Odar, Dark
Dark, 2017–2020, Baran bo Odar, Jantje Friese

Auch die künstlerischen Einflüsse der beiden Showrunner liegen zu einem großen Teil in Amerika, vor allem in den 1970er Jahren, in der New-Hollywood-Ära. Sie haben natürlich auch die Filme von Stephen King und Steven Spielberg gesehen. Sie sind mit Twin Peaks aufgewachsen. Wie David Lynch wollte auch Baran bo Odar ursprünglich Maler werden. Das sieht man auch in der neuen Serie, die mitunter mit Bildern stürmischer Seelandschaften à la William Turner besticht.

„Mit Mut stoßen Friese und bo Odar ein Fenster im Betonbunker des deutschen Fernsehens auf und lassen neben frischer Luft Gedanken herein, die sich hierzulande vorher in kein Produkt der Fernsehunterhaltung verirrt hätten“, schrieb der Spiegel. „Die deutsche Fernsehwelt wird nach Dark nie wieder so sein wie zuvor.“

Diese Einschätzung muss man nicht teilen, aber jedenfalls ebnete Dark den Weg für eine globalere Ausrichtung im Programm von Netflix (Squid Game zum Beispiel) und zeigte, dass die Menschen im Ausland gewillt sind, Untertitel zu lesen. Mit rund 83 Millionen Einwohnern und einer potenten Volkswirtschaft ist Deutschland ein lukrativer Markt. Gleichzeitig will man ein amerikanisches Publikum ansprechen.

Nun kann man mit Geld allein keine gute Serie kaufen (fragen Sie Jeff Bezos). Man kann über Jantje Friese und Baran bo Odar sagen was man will, sie werden auch gerne der Effekthascherei bezichtigt; aber die beiden können ein stimmungsvolles Rätsel gut aussehen lassen und effektive Cliffhanger kreieren. Darüber hinaus haben sie Talent zur Erforschung der menschlichen Tragödie.

Die neue Serie 1899 folgt den Passagieren und Besatzungsmitgliedern eines Dampfschiffes, das Europa verließ, um nach New York zu gelangen. Darunter eine britische Ärztin, ein deutscher Kapitän, eine Familie schwedischer Christen, zwei spanische Brüder, eine Geisha, ein Paar französische Hochzeitsreisende und ein polnischer Maschinenraumarbeiter. Sie alle sind vor etwas auf der Flucht und träumen von einem besseren Leben in Amerika, als die USA noch ein Hoffnungsschimmer waren. Doch die Serie spielt nicht zufällig in jenem Jahr, in dem Sigmund Freuds „Traumdeutung“ erschien. Wer Dark gesehen hat, kann davon ausgehen, dass 1899 mindestens so verknotet ist. Ohne zu viel zu spoilern: Es gibt Reisen durch Zeit und Raum, geheime Portale, gruselige Kinder und familiäre Probleme. Wenn deutsches Fernsehen so aussehen soll, dann bitte gerne mehr davon. Ich blieb nach dem Abspann mit nur einer Frage zurück: Wann kommt die nächste Staffel?