Vom Bleiben und Verschwinden

Neu im Kino KW 19

Das Licht, aus dem die Träume sind
Last Film Show, 2021, Pan Nalin

Aus dem Leben eines Träumers, der Albtraum einer traumatisierten Frau, eine letzte analoge Filmvorführung und aus dem Autofabriksleben Ausgestoßene in: „We are all Detroit – Vom Bleiben und Verschwinden“.

Wahrscheinlich ist Heinrich Vogeler (1872-1942) heutzutage vielen Menschen unbekannt. Um die Jahrhundertwende aber war der Zeitgenosse Rainer Maria Rilkes, Paula Modersohn-Beckers und Auguste Rodins, um nur einige zu nennen, ein erfolgreicher Künstler, der sich als Maler, Grafiker, Architekt, Designer, Pädagoge und Schriftsteller betätigte. (Neu-)Bekanntmachen kann man sich mit Vogeler – den die Zeitläufte vom Liebling des Bürgertums über den Dissidenten bis zum Exil-Künstler verschlugen – nun vermittels Heinrich Vogeler – Aus dem Leben eines Träumers, einem etwas durchgeknallten Biopic, das passenderweise flankierend zu einer umfassenden Jubiläumsausstellung in die Kinos kommt, die zum 150. Geburtstag Vogelers in den Museen des Künstlerdorfes Worpswede ausgerichtet wird. Inszeniert von Marie Noëlle (die 2019 mit Marie Curie angenehm auffiel) präsentiert sich Heinrich Vogeler als vogelwilde Mischung aus (hochkarätig besetzten) Spielszenen, Expert:innenkommentaren, historischem Material, fantastischen Einfällen – formalästhetisch mutig ebenso wie stofflich-thematisch umfassend und einem Manne angemessen, der sein Leben unverbrüchlich der Kunst widmete, der kontinuierlich um seine, um immer neue Ausdrucksformen rang und der sich um seine Zeitzeugenschaft nie drückte. Wiederentdeckung überfällig!

Auf einem ihrer Wege durchs sommerliche Berlin gerät die Altenpflegerin Nico an die Falschen: drei Rassisten, die die Deutschperserin erst schikanieren und dann verprügeln. Unscharf aufblitzende Fragmente von Gewalt markieren fortan das Trauma, mit dem es Nico nach ihrem Erwachen im Krankenhaus zu tun bekommt. Nico ist das divers erzählte Gemeinschaftswerk von Regisseurin Eline Gehring, Kamerafrau Francy Fabritz und Produzentin und Hauptdarstellerin Sara Fazilat. Ihr Drehbuch handelt von den dramatischen Folgen eines gleichzeitigen Verlustes von Selbst- wie Weltvertrauen, hat dabei Raum für Improvisation und zeugt von formaler wie visueller Experimentierfreude. Denn der Weg, den die Titelheldin sich unter großen Schwierigkeiten aus der Einschüchterung zurück in ihr Dasein kämpft, folgt kaum chronologischer Ordnung; und braucht diese auch nicht, insofern die Schläge Nico aus Zeit und Raum katapultiert haben; was sich wiederum widerspiegelt in der äußerst geringen Tiefenschärfe der Handkamera-Bilder, in denen die Hauptfigur immer wieder wie ins Taumeln gerät. Fazilat bringt ihre Figur im wilden Wechsel von Stupor, Wut und Ratlosigkeit mit emotionaler Wucht auf den Punkt; beim Filmfestival Max Ophüls Preis 2021 wurde sie dafür als Beste Nachwuchsschauspielerin ausgezeichnet.

Was hat Bochum mit Detroit zu tun? Im Dezember 2014 wird das Opelwerk in Bochum geschlossen; zu diesem Zeitpunkt liegt die Muttergesellschaft General Motors in Detroit bereits am Boden und die Stadt ist quasi im Eimer. Aus beiden Städten wich mit der Autoindustrie ein zentraler Arbeitgeber und hinterließ nicht nur gigantische Industriebrachen, sondern auch die Herausforderung, der post-industriellen Welt eine lebenswerte Gestalt zu verleihen. We are all Detroit – Vom Bleiben und Verschwinden, von 2014 an über einen Zeitraum von sechs Jahren gedrehter Dokumentarfilm von Ulrike Franke und Michael Loeken, beobachtet die unterschiedlichen Strategien, mit denen Politik und Zivilgesellschaft auf den Strukturwandel reagieren, und wie sie auf unterschiedlichen Irrwegen ans gleiche Ziel gelangen: eine weitere Umdrehung der turbokapitalistischen Stellschraube im globalisierten Ausbeutungsgefüge. Da ein Detroit vergleichbarer Verfall im Herzen Deutschlands selbstverständlich nicht in die Tüte kommt, werden „Strukturprogramme“ aufgelegt, ein Industriedenkmal kurzerhand abgerissen, dafür aber eine quietschgelbe DHL-Paketzentrums-Blechbüchse errichtet, die ein paar hundert prekäre Jobs bietet. Derweilen in Detroit die einen zur Subsistenzwirtschaft wechseln und die anderen mit Immobilien spekulieren. Sentimentale Frührentner hier und Hipster dort. In flüssiger Montage flechten Franke und Loeken Ruhrgebiet und Rust Belt ineinander, so dass Ähnlichkeit wie Differenz zwanglos augenscheinlich werden. Freilich möchte man die Augen gerne sogleich wieder verschließen …

Vom Bleiben und Verschwinden erzählt last but not least: Last Film Show. Der Verleih bewirbt Das Licht, aus dem die Träume sind, so der etwas pathetische deutsche Titel der indisch-französischen Koproduktion, die Pan Nalin in seiner Heimatregion Kathiawad in der Provinz Gujarat gedreht hat, als „Cinephilgood-Drama“. Eine Wortschöpfung, die der Sache – Nalins autobiografisch geprägter Rückschau auf seine cinephile Sozialisation – durchaus gerecht wird. Und Drama deswegen, weil gegen Ende die Digitalisierung auch in jenem entlegenen Kaff Einzug hält, in dem die herzerwärmende Geschichte rund um den kleinen Samay und dessen Liebe zum Kino angesiedelt ist. Da kommt es zu Szenen, die keine:n kalt lassen werden, der/die sich noch an das sanfte Rattern aus den Vorführräumen erinnern kann. Als die Computer, Beamer und DCPs Einzug halten, verfolgt der entsetzte Samay den Lastwagen, auf dem Projektor und Filmrollen abtransportiert werden, bis in die nächste Großstadt. Dort gehen in einem Recycling-Hof die Vorschlaghämmer gnadenlos auf die alten, verdienten Maschinen nieder und die Filmrollen werden in riesigen Bottichen eingekocht. Nicht nur Samay blutet da das Herz, auch der analog aufgewachsenen Zuschauerin werden die Augen feucht. Der Projektor wird sich in billige Löffel verwandeln und die Filmrollen in Armreifen aus Plastik. Aus der Zauber, willkommen schöne neue Welt!

Als Appendix noch ein Hinweis auf einen weiteren Neustart, der nicht unter den Desktop fallen sollte, wir zitieren Juliane Liebert aus SZ.de:

Für links halten sich sicher viele Regisseure in Deutschland. Was sie darunter verstehen, bleibt aber in der Regel diffus. Julian Radlmaier ist anders. Bei ihm hängt „Das Kapital“ vermutlich als zerfledderte Leseausgabe neben dem Klopapier, findet sich unterm Kopfkissen und im Strandgepäck. Insofern ist es nur folgerichtig, dass er mit Blutsauger eine marxistische Vampirkomödie abliefert – auch Untote haben ein Anrecht auf Sommerurlaub! (Eine filmfilter-Kritik folgt zum Österreich-Kinostart.)