Migrantige Schwestern, distanzierter Vater, zerrissene Königin: Neue Kinofilme von Yamina Benguigui, Andrea Segre und Charlotte Sieling blicken in die Vergangenheit.
„Zwischen den Jahren“ – auch so ein Unfug! Die Tage zählen ja ganz normal weiter und wer gedacht hat, zwischen Weihnachten und Neujahr so allerhand übers Jahr Liegengebliebene endlich aus dem Weg räumen zu können, sieht sich einmal mehr mit der Tatsache konfrontiert, dass es eben doch nur acht Tage sind, die Heiligabend von Silvester trennen, also viel zu wenige. Gehen wir daher lieber ins Kino. Wo allerdings neustartmäßig gesehen nicht viel los ist, weil Spider-Mans Netze noch überall kleben; vergangene Woche hat zudem die Matrix Weihnachten mit Ostern verwechselt und ist unnötigerweise wiederauferstanden und im Bond waren vermutlich auch noch nicht alle drin.
Jenen drei Filmen, die sich mutig an den Start wagen, ist der Blick in die Vergangenheit gemeinsam. Was wiederum in die Zeit vor dem Jahreswechsel sehr gut passen will, wird diese doch traditionellerweise zur Rückschau (und zum Fassen wenig haltbarer guter Vorsätze) genutzt.
Neu im Kino: Da schauen nun also in einem Familiendrama drei Schwestern auf ihre schwierige Kindheit zurück; ein Filmemacher schaut in einem (auto)biografischen Doku-Essay auf das distanzierte Verhältnis zu seinem Vater zurück; und ein Historienfilm mit ordentlich Kostüm schaut ins Jahr 1402 zurück, in dem die Kalmarer Union einer schrecklichen Belastungsprobe unterzogen wurde. Wenn das kein Angebot ist.
Neu im Kino, Teil 1: In einer Mischung aus Roadmovie, Charakterstudie und Melodram verhandelt die aus einer algerischen Einwandererfamilie stammende Yamina Benguigui mit Schwestern (Soeurs) autobiografische Motive ebenso wie die sozial relevanten Themen Immigration und weibliche Selbstermächtigung. Als Bühnenautorin Zorah beschließt, in einem Theaterstück die Geschichte ihrer Familie aufzuarbeiten – die Mutter verlässt den gewalttätigen Vater, um mit den Töchtern nach Frankreich zu gehen; der Vater bleibt mit dem einzigen Sohn und Bruder zurück – reagieren ihre Schwestern Norah und Djamila und erst recht Mutter Leila zurückhaltend bis verärgert. Als dann auch noch der Vater einen Schlaganfall erleidet, reisen alle nach Algerien, wo sie die Vergangenheit mit Nachdruck einholt. Auch wenn es in Schwestern strukturell aufgrund mächtig vieler Rückblenden ein wenig hapert, so überzeugt der Film doch zum einen mit seinem unbedingten Enthusiasmus und zum anderen mit den schauspielerischen Leistungen von Rachida Brakni, Maïwenn und Isabelle Adjani in den Rollen der drei Schwestern.
Neu im Kino, Teil 2: Auch Andrea Segre hat mit seiner Familie ein Hühnchen zu rupfen, respektive mit dem Zeit seines Lebens auf Distanz gebliebenen Vater. Nunmehr selbst Vater geworden, unternimmt Segre, der Sohn und Filmemacher, das, was Filmemacher in einem solchen Fall eben zu unternehmen pflegen: Er dreht einen autobiografisch motivierten Film, Moleküle der Erinnerung (Molecole), um das Versäumte zu kompensieren, irgendwie. Zu diesem Behufe macht er sich auf in des Vaters Heimatstadt, nach Venedig, mit der er selbst nie so recht vertraut geworden ist, und will am Ort des väterlichen Aufwachsens dessen Wesen ergründen.
Doch die Dreharbeiten finden im Februar und März 2020 statt, und wir alle wissen nur zu genau, was zu jener Zeit die Weltherrschaft an sich riss – also auch die über Venedig, den berühmt-berüchtigten Touristen-Hotspot. Plötzlich ist also die Lagunenstadt beinahe menschenleer und keine Gondel, kein Boot, und schon gar kein Kreuzfahrtschiff stellt sich der Begegnung mit dem genius loci in den Weg. Und mit einem Male wird das Leben an diesem Ort des Dazwischen – nicht eindeutig dem Land, aber auch nicht ganz dem Wasser zuzuschlagen – vorstellbar als eine ganz besondere und faszinierende Daseinsweise. Lediglich Segres allerlei Selbstreflexion raunendes Voice-over gilt es auszublenden, dann hat man einen Superfilm.
Womit zwanglos auf neu im Kino, Teil 3, also Trine Dyrholm übergeleitet wäre, die der Titelfigur in Charlotte Sielings Die Königin des Nordens (Margrete den første) Gesicht und Gestalt gibt. Wer war Margrete I. von Dänemark? Nach dem Tod ihres Gemahls Håkon VI., seines Zeichens König von Norwegen und Schweden, schickte sie sich an, als Regentin und in Stellvertretung ihres damals fünfjährigen Sohnes Olav, die skandinavischen Länder in der sogenannten Kalmarer Union zu vereinigen. Als aber Olav 1387 im Alter von 17 Jahren verstarb, adoptierte Margrete kurzerhand ihren Großneffen Erich von Pommern und setzte diesen auf den Thron – wo der sodann tat, was sie ihm auftrug. Soweit, so historisch verbürgt. Sieling allerdings erzählt in ihrem Film, so das vorangestellte Insert, „eine Fiktion, von wahren Ereignissen inspiriert“ – und es ist eine wahrhaft finstere und gnadenlose Fiktion.
Taucht doch just in einer schwierigen Phase der Reichskonsolidierung ein junger Mann auf, der von sich behauptet, der seinerzeit nicht verstorbene sondern vielmehr entführte Olav zu sein, mithin also der eigentliche und rechtmäßige König. Fortan geht es zur Sache, vor allem auf der Ebene des Gefühls: Margrete, die den Mann zunächst nicht, aber vielleicht dann eben doch als ihren Sohn erkennt, ist in höchstem Grade verunsichert; Erich sieht seinen Status bedroht und sich ein weiteres Mal entwurzelt; Olav kann nicht glauben, dass man ihm nicht glaubt; die Hofschranzen und Lehensfürsten wittern im Skandal die Morgenluft des Machtzuwachses. Binnen kurzem hat sich der Rat der drei Reiche in eine Schlangengrube voller Giftnattern verwandelt und Margrete steckt im Zwiespalt zwischen mütterlichem Instinkt, der den Sohn retten will (nur welchen?), und dem drohenden Scheitern ihres ehrgeizigen Lebensplans, der immerhin ein Friedenswerk zum Ziel hat. Sie steht also vor der ewig aktuellen Frage, was schwerer wiegt, das Wohl der Allgemeinheit oder das der Einzelnen.
Und Trine Dyrholm in der Rolle der Regentin bringt den Schmerz, der der Antwort auf diese Frage hier innewohnt, in einer Bravour-Performance zum Ausdruck. In ihren Augen spiegelt sich das Erschrecken über den Preis der Macht, in ihrem Körper das immer tunlichst unauffällige Ringen um Haltung. Geringstmöglicher Aufwand erzielt größtmögliche Wirkung; ein Schauder läuft einem über den Rücken.
In diesem Sinne: Kommen Sie gut ins neue Jahr!