Illegaler Aufenthalt in den USA und Europa sowie drei Filme, die zum Weltfrauentag passen. Und ein seltenes Tier mit breiter Brust und großen Pranken: der Schneeleopard. Mächtig was los diese Woche! Es geht quer durchs Gemüsebeet und es ist für alle was dabei, doch schwer fällt die Auswahl.
Räumen wir also zunächst das Highlight aus dem Weg, nämlich Almodóvars Madres Paralelas / Parallele Mütter, kümmert sich um dieses doch ausführlich und gewohnt kompetent Kollege Moldenhauer. Wir halten an dieser Stelle lediglich fest, das Penélope Cruz einmal mehr eine schauspielerische Glanzleistung vollbringt und Almodóvars spannungsreiche Verknüpfung von Privatem und Politischem mit ihrer seelenvollen Darbietung im Innersten zusammenhält.
In mehr als einer Hinsicht in alle Richtungen auseinanderzufliegen droht hingegen Blue Bayou von Justin Chon. Doch der Missstand, der hier aufs Korn genommen wird, stinkt derart zum Himmel, dass der Griff zum gröberen Besteck naheliegt: eine Spitzfindigkeit im US-amerikanischen Adoptionsrecht, der zufolge Adoptivlinge aus dem Ausland, für die von ihren Adoptiveltern kein Antrag auf Einbürgerung gestellt wurde und die vor dem Jahr 2000 18 Jahre alt geworden sind, abgeschoben werden können; gleich, ob sie nahezu ihr ganzes Leben in den USA verbracht haben oder nicht. Am Beispiel seines koreanischstämmigen Helden werden die schrecklichen Folgen dieses verwalterischen Unfugs nun von Chon durchexerziert; er hat das Drehbuch geschrieben, Regie geführt und auch gleich noch die Hauptrolle übernommen. Das Ergebnis dürfte den ärgsten Zyniker umhauen. Es schlägt aber auch jene in die Flucht, die es nicht mögen, wenn auf ihr inneres Gefühlsklavier, anstatt es sanft zu bespielen, eingedroschen wird. Blue Bayou ist nicht nur ein schlichtes Message-Movie, es ist eine ausgewachsene Passion, mit opernhaftem Gestus in farbenreich-dynamische Bilder gesetzt. Und es ist geradezu einschüchternd, mit welcher Entschiedenheit die Beteiligten (darunter Alicia Vikander in der Rolle der treu zu ihrem von der Abschiebung bedrohten Gatten stehenden Frau) zu Werke gehen; so dass einem letztlich gar nichts anderes übrig bleibt als zu kapitulieren.
Erschöpft wenden wir uns gen Tibet, wo zwei Herren in mittleren Jahren in ausgesprochen abgeschiedener Gegend dem dort (noch) ansässigen Schneeleoparden auflauern; der eine, weil er Naturfotograf ist, der andere, weil neugierig; außerdem möchte er ein Buch über das Unterfangen schreiben. Unterhaltungen finden ausschließlich im Flüsterton statt, es ist ziemlich kalt und manchmal bemerken die, die da so ausgiebig in die Gegend schauen, dass sie im Gegenzug gleichermaßen beobachtet werden. Manche der Prospekte der prachtvollen Landschaft sind wie Suchbilder: Sieht man genau hin, erkennt man das Tier darin, das den Blick erwidert oder nicht und sich jedenfalls so seine Gedanken macht. Wo andere sogenannte Naturfilme mit pathetischem Gesülze nerven, nimmt sich The Velvet Queen / Der Schneeleopard von Marie Amiguet und Vincent Munier dezent zurück – und wurde dafür kürzlich mit dem César für den Besten Dokumentarfilm ausgezeichnet. An der Stelle von Überwältigung vermittels optischer Attraktionen steht hier die Tiefenentspannung vermittels einer Schulung des Blicks – und die Musik stammt von Nick Cave und Warren Ellis. Nichts wie hin!
Mit solcherart geschärften Sinnen lässt sich die neueste Arbeit des experimentellen Dokumentaressayfilmers Philip Scheffner umso besser goutieren. Europe, uraufgeführt soeben im Forum der Berlinale, ist Scheffners erster Erzählfilm und handelt von der Algerierin Zohra, die, nachdem die medizinische Behandlung ihrer schweren Skoliose (d.i. eine Rückgratverkrümmung) in Frankreich abgeschlossen ist, ihren Aufenthaltstitel verliert. Sie beschließt, dennoch zu bleiben, und verschwindet daraufhin, zumindest für eine Weile, ganz konkret aus dem Filmbild. Illegalität macht nicht nur unsichtbar, sie zwingt einen auch dazu, die eigene Biografie ins Fiktive zu verlagern. Doch nicht nur das zeigt Scheffner, er nutzt zugleich die Gelegenheit, Fallstricke wie Möglichkeiten des Narrativen hintergründig zu erforschen.
Am Dienstag feierte die Welt den Internationalen Frauentag und also sei an dieser Stelle noch auf drei Filme hingewiesen, die sich aus dezidiert feministischer Perspektive mit den Lebenswirklichkeiten von Frauen auseinandersetzen.
Der Begriff „Casting-Couch“ ist zwar schon lange nicht mehr Witz-tauglich, leider aber immer noch Realität, wie Alison Kuhn in ihrem Dokumentarfilm The Case You – Ein Fall von vielen zeigt. Kuhn rekonstruiert ein Casting, im Zuge dessen es systematisch zu sexuellen Übergriffen auf junge und unerfahrene Schauspielerinnen kam. Diese Übergriffe wiederum, und das ist das Perfide daran, wurden damit begründet, dass es sich beim fraglichen Projekt um eines zum Thema Missbrauch handelte, mithin also Nehmerinnen-Qualitäten gefragt seien. Falls wer glaubt, #metoo sei abgehakt: anschauen!
Sehr persönlich ist auch der Ansatz von Petra Seeger in Vatersland. Die Kiste mit den Familienfotos und Homemovies (es sind Seegers vom Vater geerbte) löst in der Drehbuchautorin und Filmemacherin Marie (Seegers Alter Ego) eine Erinnerungskaskade an das Aufwachsen in der BRD der 1950er bis 1970er Jahre aus. Bleierne Zeiten, in denen Papi uneingeschränkt das Sagen hatte; nämlich zum Beispiel: „Mädchen gehören VOR die Kamera“, als seine Tochter den Wunsch nach einem Fotoapparat äußert. Dennoch, der früh verwitwete Mann gibt als alleinerziehender Vater sein Bestes und Bernhard Schütz gelingt in der Rolle ein komplexes Charakterporträt der Kriegsgeneration. So wie auch Vatersland mit seiner einleuchtenden Mischung aus Spielszenen und Originalmaterial, Autobiografie und Fiktion, Gegenwart und Vergangenheit das umfassende Bild eines historischen Wurzelgeflechts schafft.
Ein Film über Luchadoras – Praktizierende des mexikanischen Wrestlingstils Lucha Libre – in Ciudad Juarez lädt sich quasi automatisch emanzipatorisch auf, ereignet sich an diesem Ort doch seit 1990 ein ungebremster Femizid. In einem solchen Kontext trägt jede kämpfende Frau die Fackel der Selbstermächtigung, nur lässt sich darauf allein leider kein aussagekräftiger Film aufbauen. Indem Paola Calvo und Patrick Jasim in Luchadoras auf Erklärungen, Einordnungen und Kommentare verzichten und auch den Unterschied zwischen Inszenierung und Wirklichkeit mitunter im Diffusen lassen, lassen sie zugleich das Publikum im Dunklen. Umso bedauerlicher ist diese verpasste Chance, als Luchadoras mit tollem Material visuell sehr für sich einnimmt.
Um Showkämpfer der etwas anderen Art handelt es sich bei der berühmt-berüchtigten Jackass-Truppe rund um Johnny Knoxville. Und wer das mit der toxischen Männlichkeit, so wirklichkeitsmächtig sie ist (oder vielleicht auch gerade deswegen), nicht mehr hören kann, die könnte es zur Abwechslung mit infantiler Männlichkeit versuchen. Aber Achtung, der Anblick von 50-Jährigen, die offenbar auf der Entwicklungsstufe von 5-Jährigen stehengeblieben sind, sich gegenseitig auf die Eier hauen und Fürze anzünden, kann eine gestandene Frau durchaus erschüttern! Die Titelsequenz von Jackass Forever jedoch ist ein kleines Juwel des Monster-Katastrophenfilms, und auch wenn der Rest des Films allzu sehr im wahrsten Sinne des Wortes auf den Sack geht, die pure anarchische Energie und das entschlossene „Scheiß drauf!“ – und zwar nämlich auf Zivilisation und Wohlverhalten, gutes Benehmen und guten Geschmack sowie Werte, Normen und was einem in dem Zusammenhang sonst noch alles einfallen mag – sie nötigen dann doch Respekt ab. Zur Verbreitung des Phänomens sei auf einen entsprechenden Fan-Account verwiesen.