Neues aus dem Norden

Neu im Kino KW 16

The Electrical Life of Louis Wain, 2021, Will Sharpe

Alexander Skarsgård als „The Northman“ von Robert Eggers und „The Electrical Life of Louis Wain“ mit Benedict Cumberbatch als Exzentriker sind die Highlights der Woche. Dazu drei sehenswerte Dokumentarfilme.

2015 legte er mit The VVitch: A New-England Folktale ein fulminantes Debüt vor. Er zog das Publikum hinein in die engstirnige Pilgerväter-Welt des Jahres 1630 – damals also, als der aufs Jenseits gerichtete christliche Glaube noch als Bollwerk gedacht wurde gegen die ziemlich diesseitig in Gestalt von Hexen und Dämonen konzipierte Wirkmacht des Versuchers – und sprengte sie sodann, indem er sie beim Wort nahm. 2019 ließ er mit The Lighthouse, in dem sich ein Leuchtturmwärter und sein Gehilfe auf einer einsamen Insel schnapsbefeuert ins seemannsumgarnte Delirium schrauben, einen nicht weniger faszinierenden, transzendierenden Genrefilm folgen. Da liegt die Latte für das nächste Werk natürlich hoch, und dementsprechend gespannt erwartet hat das Publikum Robert Eggers‘ The Northman, ein Rache-Epos, das in Skandinavien zwischen 895 und 950 a.D. angesiedelt ist. Wikinger also. Und mächtig schlägt Eggers zu, und neuerlich verleiht er den Genretropen ungeahnte Tiefe und Komplexität. Er erreicht dies hier durch den konsequenten Einsatz des Mittels der Übertreibung – die er, jedes Mal kurz bevor sie ins Lächerlich-Groteske kippt, ins Bitterernste wendet und solcherart Erkenntnisse über die tiefinnere Wahrheit der Mythen ermöglicht.

Alexander Skarsgård wirft sich mit einer geradezu einschüchternden Entschiedenheit in seine Rolle; auf seiner definierten Bauchmuskulatur ließe sich tatsächlich Wäsche waschen und wenn er sich in Kampf-Rage brüllt, glaubt man die wahrhafte Verwandlung in eine blutrünstige Bestie zu sehen, die alsdann mit triefenden Lefzen unter die Widersacher fährt, sie zu zerfleischen. The Northman macht keine Kompromisse; es ist ein ungeheuer brutaler und blutiger Film, der von Verrat und Schicksal handelt und ein Schlachtfest shakespeare’scher Dimension feiert. In der Tat erzählt Eggers ja die Ursprungsgeschichte des legendären Wikingers und Krieger-Prinzen Amleth, jener historischen Figur, die schließlich Shakespeares „Hamlet“ inspirieren wird.

Spätestens jetzt ist klar, dass in The Northman ein existenzialistischer Wind weht. Und da man um die Vergeblichkeit, vor allem aber die Sinnlosigkeit von Hamlets Rache-Unterfangen weiß, nimmt es einen nicht wunder, dass auch hier der Zorn einen Sturm entfesselt, der endlich alle in den Abgrund reißt. Allerdings brachte schon lange niemand mehr derart niederschmetternd auf den Punkt, dass Walhalla – und alle vergleichbaren Helden-Ziel-Orte – lediglich ein schön-lügender Begriff für die moralische Hölle ist.

Ein weiteres Highlight: Louis Wain (1860-1939) war insofern ein typischer Engländer, als er etwas seltsam war; er war besessen von Elektrizität, er arbeitete an Erfindungen und Patenten; er brach die Konventionen seiner Zeit, als er eine um zehn Jahre ältere Frau heiratete, die zudem die Gouvernante seiner fünf Jahre jüngeren Schwestern war. Mit ihr war er glücklich, doch leider starb sie bereits nach wenigen Jahren an Krebs, einen zugelaufenen Kater namens Peter hinterlassend, der den Anstoß gab für Wains Karriere als Illustrator. Als solcher schuf Wain für die Wochenzeitschrift The Illustrated London News eine Welt, in der die Katzen sich wie Menschen benehmen, oder möglicherweise das Menschliche in Katzen sichtbar wird, oder gar das verbindende Wesen von Mensch und Tier sich ausdrückt. Jedes Kind auf der Insel kennt die Katzen von Louis Wain, die, weil ihr Vater sich nicht ums Copyright scherte, überall auf der Welt frei herumlaufen. Die letzten 15(!) Jahre seines Lebens verbrachte Louis Wain, eines der helleren Lichter in Gottes Lampenladen, im Irrenhaus; man mutmaßt nach Aktenlage, dass er unter Schizophrenie litt.

The Electrical Life of Louis Wain (Die wundersame Welt des Louis Wain) von Will Sharpe nun ist der Film, der sich darum bemüht, diesem Mann Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Und er ist dabei so ungebärdig wie sein Gegenstand und dessen wundersame Welt – er wechselt die Tonlagen, die Genres, den Rhythmus mitunter in einer einzigen Szene. Gerade noch lacht man, da kommen einem auch schon die Tränen und immer wieder zwischendurch reißt es einem die Augen auf ob des statthabenden Unfugs. Ein wundersamer, ja geradezu ein herrlicher Film, zu dessen Gelingen der wunderbare Benedict Cumberbatch als Louis Wain nicht wenig beiträgt.

Womit wir, im Sinne der von Pfarrer Kneipp verordneten Wechselbäder, in der Realität und bei den Dokumentarfilmen ankommen.

„Köy“ heißt Dorf. Im gleichnamigen Dokumentarfilm von Serpil Turhan erzählen Neno, Saniye und Hêvîn, in Berlin lebende Kurdinnen aus drei Generationen, von dem, was war, und dem, was sie erhoffen. Alle drei stammen ursprünglich aus Dörfern im Osten der Türkei und allen dreien gemeinsam ist das Gefühl des Verlustes von Heimat. Über mehrere Jahre hinweg hat Turhan für Köy die Gespräche mit den Frauen geführt und jedes Mal wird deutlich, dass der Blick, der sich aus der Ferne aufs Herkunftsland richtet, kein distanzierter ist. Vielmehr bleibt er hartnäckig sehnsüchtig, erst recht, da die politische Entwicklung in der Türkei und die kurdische Identität in der Diaspora in derart scharfem Kontrast zueinander stehen. Zugleich verhindern Trauer und Sorge über die Lage „Zuhause“ das Ankommen in Deutschland. Es ist die hochbetagte Großmutter der Filmemacherin, Neno, die das damit verbundene Verhängnis beschreibt: Immer schaue sie zurück und erinnere sich und der Kopf werde ihr voll und das Herz schwer und das Heute flüchtig. Vor dem Hintergrund der kürzlichen Angriffe der Türkei auf die Kurdengebiete im Irak erlangt Köy, der ohne jedes Pathos jenen Schmerz beschreibt, der unsere Gegenwart prägt, eine bittere Schärfe.

Vom Dorf geht es in die große weite Welt: Willem Dafoes markante Stimme schmeichelt sich ins Ohr, während das Auge Bilder anstaunt, die die natürliche Schönheit von Flüssen zeigen. „Die Arterien des Planeten“ geben dem Film River seinen Titel, der, logisch, beim berückenden Ursprungszustand nicht stehen bleiben kann, sondern weiterfließen muss zum schrecklichen Zerstörungswerk, das unser Zeitalter prägt. Also folgen auf Delta- und Auenlandschaften Kanäle und Staudämme, zerschellt blühendes Leben an Betonmauern, verdorrt der Keim, den gute Vorfahren eigentlich an die nachfolgenden Generationen weiterreichen sollten.

River von Jennifer Peedom und Joseph Nizeti versammelt Filmmaterial aus 39 Ländern und bietet Blicke von ganz weit weg (aus dem All) und ganz nah dran (aufs Sediment); dazu erklingt Musik von Antonio Vivaldi bis Jonny Greenwood und ein nachdenklicher, berührender Text – da steht natürlich schnell der Verdacht im Raum, es mit einer jener selbstmitleidigen Naturdokus zu tun zu haben, in der das Anthropozän sich mit möglichst grandioser Geste zugleich darstellt und beweint. Es handelt sich aber vielmehr um den Versuch, den Fluss als Erdgestalter philosophisch zu fassen; da kann man dann schon mal mitdenken.

Und dann, später, wenn alles zerstört ist, ins Museum gehen und drei Tierpräparatoren bei der Arbeit zusehen. Robert Stein, Maurizio Gattabria und Christophe de Mey vom Naturhistorischen Museum in Berlin, Rom beziehungsweise Brüssel bereiten sich in The Second Life von Davide Gambino auf die European Taxidermy Championship in Salzburg vor; der eine stopft einen Seeadler aus, der andere einen Orang-Utang, der dritte versucht sich an einem Tiger. Allen dreien gemeinsam ist die Überzeugung, dass die Distanz zur Natur, in die die Menschheit selbstverschuldet geraten ist, mithilfe präparierter Tiere überwunden werden kann. Denn diese suchen nicht das Weite, wenn sie den Menschen sehen und sie beißen nicht, wenn er sie anfasst. Und weiterhin vereinigt sich in einem guten Präparat die Schönheit der Schöpfung mit der Wehmut über ihre Vergänglichkeit, woraus der Impuls zu ihrem Schutz erwachsen kann.

Insofern ist der Blick hinter die Kulissen aufschlussreich, den Gambino in The Second Life ermöglicht. Es ist zugleich der Blick auf ein komplexes Wechselspiel zwischen Leben, Tod und Schein, zwischen der Sehnsucht des Menschen nach Kontakt, die immer auch eine nach dem Ursprung ist, und der Frustration über das Nicht-Gelingen, die das eigene existenzielle Unbehaustsein einmal mehr schmerzhaft deutlich macht. In den Glasaugen des Präparats spiegelt kein Erkennen und schottet die „Natur“ sich endgültig ab gegen ihren Zerstörer.

Das Haar in der Suppe ist der etwas zu pathetisch geratene Text des Voiceovers, der zudem von Hannes Jaenicke mit einer Stimme vorgetragen wird, der der dazu erhobenene Zeigefinger tatsächlich anzuhören ist. Bedenkt man aber, dass in der Originalversion der ausgestopfte Orang-Utang die mahnenden Worte spricht, dann nimmt man Jaenickes bedeutungsschwangeres Tremolo gnädiger in Kauf.