Mit eigenen Augen

Neu im Kino KW 45

Lieber Thomas, 2021, Thomas Kleinert

Filme über Thomas Brasch, Albert Speer und Alice Miller, dazu ein Blick hinter ARD-Kulissen und ein paar Spielfilme. Ein selektiver Überblick.

Das Zentralgestirn dieser Woche, ihr wild schlagendes Herz ist Thomas Brasch. Schriftsteller, Filmemacher, Theatermann, von der DDR in den Westen gewechselt, unfreiwillig, dort dann endgültig unglücklich geworden und 2001 mit 56 Jahren verloschen. Unter der Regie von Thomas Kleinert zeigt Albrecht Schuch in der Titelrolle von Lieber Thomas einmal mehr, warum er zu den derzeit angesagtesten deutschen Schauspielern zählt. Mühelos schultert er den 130-minütigen Schwarzweißfilm und spielt alles an die Wand, was nicht bei Drei auf dem Baum ist. Abgesehen von Jella Haase, die in der Rolle von Braschs langjähriger Gefährtin Katharina Thalbach dem Schauspiel-Kraftwerk den Widerstand des Wassers entgegensetzt und die von Schuch scharfkantig umrissene Figur sanft umfließt. Solcherart zum Vorschein bringend, dass sich da einer immer wieder auch selbst im Wege stand.

Allerdings erfährt man weder über die familiäre Psychodynamik der DDR-kulturhistorisch bedeutsamen Brasch’schen Sippe noch über die tatsächliche Kunst von Thomas Brasch viel Erhellendes, allzu sehr ordnet sich Kleinerts Film Schuchs berserkerhafter Schauspielviech-Präsenz unter. Wer mehr will als einem rundum überzeugenden Charakterporträt bewundernd zu Füßen sinken, kann in der Arte-Mediathek den dort noch bis zum 29. Januar 2022 eingestellten Dokumentarfilm Brasch – Das Wünschen und das Fürchten in Augenschein nehmen, die Christoph Rüter unter Verwendung von Originalmaterial seines mit dem Schreiben in der Heimatlosigkeit ringenden Freundes 2011 fertig gestellt hat. Für den erweiterten Kontext möge sodann Annekatrin Hendels so materialreiche wie bewegende Doku Familie Brasch dienen, die es auf der Website des Salzgeber Verleihs gegen geringes Entgelt zu sehen gibt.

Lieber Thomas, 2021, Thomas Kleinert

Apropos Dokumentarfilm. Den Freund:innen der Gattung hat diese Woche so einiges zu bieten. Speer goes to Hollywood von Vanessa Lapa ist ein Beitrag zur Demontage des allzu lange virulenten Images vom „guten Nazi“, das Hitlers Leibarchitekt Albert Speer Zeit seines Lebens mit Hingabe propagierte. Als Paramount Pictures zu Beginn der 1970er Jahre plant, Speers Bestseller „Erinnerungen“ zu verfilmen, hält deren Verfasser die Gelegenheit für günstig, seine Biografie reinzuwaschen. In der vermittels reichhaltigen Archivmaterials belegten Auseinandersetzung zwischen Speer, Drehbuchautor Andrew Birkin und Regisseur Carol Reed über das letztlich dann scheiternde Projekt tritt ein erschreckendes Ausmaß von Selbstverleugnung und Verdrängung zutage.

Speer Goes to Hollywood, 2020, Vanessa Lapa

Verdrängung ist auch der prägende Begriff in Daniel Howalds Who’s afraid of Alice Miller?, in dem Martin, der Sohn der berühmten Kinderrechtlerin und Psychologin, bittere Anklage erhebt. In der Kindheit wird er vom Vater geschlagen, von der Mutter wird er bis zu deren Tod abgelehnt; schließlich begibt er sich als bereits alternder Mann gemeinsam mit Irenka Taurek, einer Cousine Alice Millers, nach Polen auf die sprichwörtliche Spurensuche. Er stößt dort auf das Trauma der Überlebenden, das sich in die zweite Generation wie ein Krebs hineingefressen hat, er hadert und wütet. Who’s afraid of Alice Miller? liefert ein Musterbeispiel für Erinnern – Wiederholen – Durcharbeiten, jenen fundamentalen Dreiklang psychoanalytischer Therapie – und zeigt zugleich deren Grenzen auf.

Who’s Afraid of Alice Miller, 2020, Daniel Howald

Völlig unpsychologisch, strohtrocken und dabei doch hochspannend geht es in Mit eigenen Augen zu, in dem Miguel Müller-Frank einen Blick hinter die Kulissen des renommierten Politmagazins Monitor (ARD) wirft. Akribisch wird das Entstehen einer Sendung nachvollzogen, in der es u.a. einen Beitrag zum rechtsradikalen Hintergrund des Mordes an CDU-Politiker Walter Lübcke geben soll. Eine mit stoischer Ruhe beobachtende Kamera steht dabei der zunehmenden Hektik in der Redaktion gegenüber, die sich durch rasch wechselnde Informationslagen in ihrer Arbeit herausgefordert sieht. Solcherart entsteht nicht nur ein höchst informatives Bild der Mühen der Ebene des modernen TV-Investigativ-Journalismus, sondern auch eine Würdigung von Verdienst und Bedeutung einer freien Presse. Zugleich ein wertvoller Zugang zum Curriculum des Schulfachs Medienkompetenz. Wie, das Fach gibt’s nicht?!

Mit eigenen Augen, 2020, Miguel Müller-Frank

Wem der Sinn eher nach einem traditionellen Spielfilm steht, der ist mit Eine Handvoll Wasser von Jakob Zapf gut beraten, spielt darin doch Jürgen Prochnow seine Paraderolle des knorrigen Alten mit dem guten Herzen. Die harte Schale um den weichen Kern wird hier von einem Flüchtlingskind geknackt – und das Schöne daran ist, dass Prochnows Präsenz Kitschfreiheit garantiert.

Die alljährlich unvermeidliche Weihnachtsfilmschwemme schickt ein erstes Wellchen voraus in Gestalt des sehr charmanten norwegischen Kinderfilms Elise und das vergessene Weihnachtsfest (Snekker Andersen og den vesle bygda som glomte at det var jul) von Andrea Eckerbom, in dem die Titelheldin den von umfassender Amnesie befallenen Bewohner:innen ihres Heimatdorfes das Fest der Liebe wieder in Erinnerung ruft (gegen geringes Entgelt auch bei mehreren Streamern im Angebot).

Elise und das vergessene Weihnachtsfest, 2019, Andrea Eckerbom

Nicht zu vergessen schwappt mit Felix Charins Krass Klassenfahrt der unvermeidbare Film zur gleichnamigen Webserie ins Kino, die wiederum – dies für die Ahnungslosen unter uns – eine Parodie auf sogenannte Scripted-Reality-Soaps darstellt und in der statt Schauspieler:innen Influencer agieren. Sieht so die Zukunft des Kinos aus? Publikum ist – jedenfalls in pandemiearmen Zeiten – garantiert. Selbiges wird zweifelsohne auch Til Schweigers aktuellem Werk zuteil werden. Die Rettung der uns bekannten Welt hat Schweiger der Presse, von der er bekanntlich nichts hält, vorab allerdings nicht gezeigt. Weswegen sich dazu auch nichts sagen lässt und das dieswöchentliche Kapitel hiermit schließt.