Gegen Bush, für den Fluss

Neu im Kino KW 17

meltem kaptan
Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush, 2022, Andreas Dresen

Kurnaz vs. Bush; die Arterien unseres Planeten; und was sonst so läuft. Weiterhin im KIno: „Luzifer“.

Ein Absatz vorausgeschickt, bevor Kollege Moldenhauer zu Wort kommt: Fans von Downton Abbey wird nicht verborgen geblieben sein, dass ihr Adelsfranchise in „eine neue Ära“ eingetreten ist, so der Untertitel des jüngsten Kino-Ablegers der populären TV-Serie. Gemeint ist damit ein das Personal in Aufregung versetzendes Filmteam, das auf dem Anwesen einzieht. Die sehr gegenwärtige Ära nicht abreißender Fluchtbewegungen steht dagegen im Zentrum von La Traversée (Die Odyssee), einer meisterhaft von Florence Miailhe animierten, berührenden Geschichte, welche sich aus den Erfahrungen der Flucht ihrer Urgroßeltern aus Odessa speist. So kann man Kindern die Welt erklären. So allerdings auch: Playground ist ein hartes Mobbing-Krimidrama aus Belgien, welches auf einem realen Fall beruht – unsere Besprechung folgt.

Andreas Dresen (Gundermann, Halbe Treppe) hat den Prozess um den zu Unrecht des Terrorismus verdächtigten, in Guantanamo inhaftierten Murat Kurnaz verfilmt. Im Zentrum von Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush steht, anders als in Stefan Schallers Verfilmung von Kurnaz’ Autobiografie 5 Jahre Leben, nicht der Inhaftierte, sondern seine Mutter Rabiye. Die wird gespielt von der Kölner Comedienne Meltem Kaptan, und die Casting-Entscheidung zeigt schon, dass Dresen kein schweres Court-Drama im Sinn hatte, sondern etwas Leichteres. Wie jeder Dresen-Film lebt auch dieser primär vom Cast. Alexander Scherer, der sich zu einem der im guten Sinne routiniertesten und vielseitigsten deutschsprachigen Schauspieler entwickelt hat in den vergangenen Jahren, spielt den Bremer Menschenrechtsanwalt Bernhard Docke mit norddeutschem Understatement. Und Meltem Kaptan verbreitet auf der Leinwand eine unbändige Energie und ungebrochene Lebensfreude, bei allem Elend (und erhielt dafür einen Silbernen Berlinale-Bären).

Weiterhin im Kino: Luzifer. Von der Restwelt isolierte Mutter-Sohn-Beziehungen sind gemeinhin ein Hort des Unheils, man weiß es spätestens seit Hitchcocks Psycho. Im vierten Spielfilm des auf körperliche und psychische Ausnahmezustände inzwischen spezialisierten Regisseurs Peter Brunner (in unserem Podcast spricht er über Gott und die Welt und das Kino) leben Maria (Susanne Jensen) und Johannes (Franz Rogowski) zu zweit in den Tiroler Bergen. Johannes ist geistig etwas reduziert, ein Kaspar-Hauser-Typ, die Mutter Maria wiederum seit dem Tod ihres Mannes noch einmal wahnhafter religiös als zuvor eh schon. Mit der Nachricht, dass der Wald gerodet wird und sie ihr Heim verlassen müssen, sturzelt die ungut verquickte Zweierfamilie zunehmend ins Delirium. Maria hat den Teufel im Verdacht, und vor einer erhabenen Naturkulisse (wunderschön gefilmt von Peter Flinckenberg) geht es dann los mit der Austreibung. Peter Brunner will mit Luzifer nicht zu wenig und vieles gleichzeitig – Horror, Natur- und Familiendrama. Wem das zu überladen erscheint, kann sich immer noch an der Natur und dem Soundtrack des Ambient-Künstlers Tim Hecker erfreuen, der einerseits alles ins stete Fließen bringt und andererseits durch Verschiebungen und Brüche die Intensität konstant hochhält.

Vater-Tochter-Beziehung: Wolke unterm Dach erzählt von der Trauer nach dem Tod von Julia (Hannah Herzsprung), die ihren Mann Paul (Frederick Lau) und ihre Tochter Julia (Romy Schroeder) zurücklässt. Dabei verfährt der Film nicht eben subtil (hier der Trailer) und seine Ideen sind nicht immer neu: Paul lässt sich volllaufen, Julia imaginiert die tote Mutter als Geist auf dem Dachboden. Die emotionalisierende Musik ist omnipräsent und muss erledigen, was den Bildern und den Figuren alleine nicht gelingt.

Kollegin Seitz schließlich vermerkt zu River: Willem Dafoes markante Stimme schmeichelt sich ins Ohr, während das Auge Bilder anstaunt, die die natürliche Schönheit von Flüssen zeigen. „Die Arterien des Planeten“ geben dem Film seinen Titel, der, logisch, beim berückenden Ursprungszustand nicht stehen bleiben kann, sondern weiterfließen muss zum schrecklichen Zerstörungswerk, das unser Zeitalter prägt. Also folgen auf Delta- und Auenlandschaften Kanäle und Staudämme, zerschellt blühendes Leben an Betonmauern, verdorrt der Keim, den gute Vorfahren eigentlich an die nachfolgenden Generationen weiterreichen sollten.

River von Jennifer Peedom und Joseph Nizeti versammelt Filmmaterial aus 39 Ländern und bietet Blicke von ganz weit weg (aus dem All) und ganz nah dran (aufs Sediment); dazu erklingt Musik von Antonio Vivaldi bis Jonny Greenwood und ein nachdenklicher, berührender Text – da steht natürlich schnell der Verdacht im Raum, es mit einer jener selbstmitleidigen Naturdokus zu tun zu haben, in der das Anthropozän sich mit möglichst grandioser Geste zugleich darstellt und beweint. Es handelt sich aber vielmehr um den Versuch, den Fluss als Erdgestalter philosophisch zu fassen; da kann man dann schon mal mitdenken.