Einstige Tabus

Neu im Kino KW 28 (DE)

the owners, tushingham, williams
The Owners, 2020, Julius Berg

Früher tendenziell heikle Themen (Alterssex, Paarporno, filmische Trauerarbeit) und das Terror-Movie „The Owners“: keine Spur von Sommerloch in deutschen Kinos.

Emma Thompson nackig!? Da muss man hin, das muss man sehen! Und wo kommt es zum Äußersten? In Sophie Hydes Good Luck to you, Leo Grande (Meine Stunden mit Leo), einem Arthouse-Crowdpleaser wie er im Buche steht, noch dazu mit aufklärerischem Mehrwert! Eierlegende Wollmilchsau sozusagen …

Jetzt aber mal im Ernst; im in Rede stehenden, zweifellos sehr charmanten, aber halt leider auch arg naiven und letztlich viel zu glatten Film spielt Thompson die kürzlich verwitwete Nancy Stokes, die endlich einen Orgasmus erleben will (der Verflossene war keine Granate im Bett) und sich zu diesem Behufe einen Escort-„Boy“ mietet. Nachvollziehbare Sache das und Knüller-Ausgangslage. Natürlich ist Nancy schrecklich (schrecklich!) aufgeregt, aber Leo ist ein echtes Schätzchen – und das Herz geht einem auf und man grinst, bis die Mundwinkel weh tun und der Zuckerpegel einen umzuhauen droht.

Sei’s drum! Dieser Film ist natürlich unbedingt begrüßenswert aus vielerlei Gründen, die Sie sich am besten selbst im Kino anschauen. Nur eins noch: Emma Thompson ist 63 Jahre alt, nicht, wie ihre Filmfigur, 55, und da fragt frau sich dann doch, wieso die Figur nicht so alt sein kann, wie die Frau, die sie darstellt. Zumal es doch um Sex (Orgasmen!) im Alter geht. Ist etwa einer 63-Jährigen der sexuelle Spaß weniger zu gönnen als einer 55-Jährigen? Oder liegt es nicht vielleicht vielmehr daran, dass 63 dann doch gefährlich nahe ans Alterssex-Tabu gerät? Wie gesagt, Leo Grande traut sich viel, vor den letzten Metern aber scheut er.

In ihrem Haus auf Zypern („wegen der Steuern“, sagt er) drehen Nico Nice und Jamie Young, die natürlich im wahren Leben anders heißen, Pornos, die sie dann im Internet vermarkten. Sie gehören zu den Protagonist:innen der in der Amateurpornografie angesiedelten Unterabteilung „Paar-Porno“, mit der so mancher Pornokonsument, nicht zuletzt der Filmemacher Joscha Bongard selbst, die Hoffnung auf eine „ethische Revolution der Pornoindustrie“ verbindet, weil dabei von einer „konsensuellen Pornoproduktion“ ausgegangen wird. (Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt, das sieht man auch an der jüngsten spielfilmischen Bearbeitung des Themas.) Jedenfalls zieht Bongard aus, am Beispiel von Nico und Jamie eine sex- und pornopositive Geschichte zu erzählen und wird ernüchtert. Pornfluencer ist das tröstlich einfallsreich ins Bild gesetzte trostlose Dokument dieser Ernüchterung: „Wir haben uns dazu entschlossen, (…), die Beziehungsdynamiken, das Mindset und das Geschäftsmodell klar sichtbar zu machen“, so Bongard im Regiekommentar.

Wir sehen und hören also zwei junge Menschen Anfang Zwanzig, denen es, glaubt man ihnen, ausschließlich darum geht, in möglichst kurzer Zeit möglichst viel Geld zu machen. Dazu ist jedes Mittel recht, unter anderem das der Selbstaffirmation, eine Art Gehirnwäsche in Eigenregie, die als morgendliches Ritual durchgeführt wird und der positiven Ausrichtung der eigenen Gedanken dient. Wenn dann aber Nico beiläufig erzählt, dass er Jamie bei einem seiner Fischzüge als Pick-up-„Artist“ aufgegabelt hat, schrillen alle Alarmglocken. Sie werden nicht leiser, wenn man sieht, wie er immer wieder versucht, sie zu Posen zu bewegen, die sie nicht einnehmen will, wie er nicht auf sie eingeht, wie er sie buchstäblich im Griff hat. Und Jamie kichert alles weg, ignoriert, dass er nicht zuhört, träumt vom großen Geld und von einer gemeinsamen Familie. Einstweilen lässt sie sich von einem Typen, der behauptet ihr Freund zu sein, sich aber eher wie ein Zuhälter benimmt, vor der Kamera ficken und ins Gesicht wichsen. Anschließend übernimmt sie dann auch noch den Schnitt.

Selten habe ich mir so sehr gewünscht, eine Doku möge sich als Fake-Doku herausstellen. Aber leider leider leider … nein.

Am 14. März 2019 war alles vorbei. Eigentlich hatten sie dann doch irgendwann heiraten wollen, Angelina Zeidler und Erec Brehmer, aber auf dem Rückweg vom Skifahren kam es auf der Landstraße zu einem schweren Verkehrsunfall, den „Angi“ nicht überlebt. Erec, Filmemacher, Überlebender, verzweifelt, niedergeschmettert, macht, was ein Filmemacher und „Digital Native“ heutzutage in einem solchen Fall eben macht: Er dreht einen Film. Um seinen Schmerz zu bewältigen oder doch wenigstens einigermaßen in den Griff zu bekommen. Bestehend aus zahllosen Handyvideos von früher, Amateuraufnahmen von heute, Sprachnachrichten, Tagebucheinträgen, vormals gemeinsam gehörter Musik und einem aufrichtigen, konsequent subjektiven Voiceover. Wer wir gewesen sein werden von Erec Brehmer ist Rekapitulation, Trauerarbeit, Gesprächsangebot, Selbstentblößung, Nabelbeschau. Wie man das empfindet, ob als Grund zum Fremdschämen oder als couragierten kommunikativen Akt, der in Tabus vorstößt, hängt vom Naturell der jeweiligen Zuschauerin ab. Wenn man sich allerdings Erec Brehmers Aufnahmen von Angelina Zeidler so anschaut, dann hat man nicht nur den Eindruck, dass es da eine Leerstelle gibt, über die ihr Freund trotz aller Redseligkeit nicht spricht, man wird auch das Gefühl nicht los, dass ihr diese Art eines öffentlichen Vermächtnisses wahrscheinlich eher nicht so richtig recht gewesen wäre.

Das hatten sich die vier jungen Leute etwas einfacher vorgestellt; nämlich so: Warten, bis das alte Ehepaar das stattliche Landhaus verlässt, reingehen, Safe ausräumen, rausgehen, reich sein und auf den Putz hauen. Doch wie immer bei derart simplen Plänen geht die Chose spektakulär schief und verlassen am Ende deutlich weniger Figuren den Schauplatz lebendig als ihn zu Beginn betraten. Das haben geneigte Genrefreund:innen schon mindestens tausend Mal gesehen und da kommt es auf das tausendundeinste Mal nun auch nicht mehr an; zumal es sich bei Julius Bergs The Owners, angesiedelt in der (bald keineswegs mehr) idyllischen englischen Grafschaft Kent, um ein ganz besonders garstiges Exemplar handelt, in dem es zudem noch Rita Tushingham und Maisie Williams als Antagonistinnen ordentlich krachen lassen. Jungs spielen natürlich auch mit und zeichnen für die zügige Eskalation verantwortlich; danach geht es blutig und drastisch und hurtig weiter und schließlich wächst sich The Owners sogar noch zu einem ziemlich beeindruckenden Terror-Movie aus. Man soll sich halt nicht mit begütigend nur scheinenden Alten anlegen, die schreckliche Geheimnisse haben und Schlimmes im Schilde führen. Hätten die jungen Leute mal besser in der Schule aufgepasst und sich an diese Tafel über jenem signifikanten Eingang erinnert, auf der zu lesen steht: Ihr, die ihr hier eintretet, lasst alle Hoffnung fahren!