To be a Mensch

Großartig: „Zeiten des Umbruchs“ von James Gray – jetzt auf Disc oder im Stream

James Gray, Zeiten des Aufruhrs
Armageddon Time, 2022, James Gray

„Zeiten des Umbruchs / Armageddon Time“: Das autobiografische Familienporträt des New Yorkers James Gray ist ein Leuchtturm im ambivalenzlosen Mainstream-Kino unserer Tage.

„Ich mag die Idee des Verlustes der Unschuld nicht, weil sie auf einer bürgerlichen Lesart von Geschichte basiert“, hat der Regisseur James Gray im Interview mit Indiewire erklärt. „Sie geht davon aus, dass Kinder unschuldig sind. Was sie nicht sind. Und sie setzt voraus, dass es einen Moment der Schönheit und Reinheit gab, den es nicht gibt.“ Das sind die konzeptuellen Voraussetzungen, unter denen James Gray nach seinen vergleichsweise spektakeligen Filmen The Lost City of Z und Ad Astra mit Zeiten des Umbruchs zum kleinen, präzisen Familienporträt zurückgekehrt ist.

Dieses Mal ist es das Bild seiner eigenen Familie, das sich hier entfaltet. Recherchiert hätte er für Zeiten des Umbruchs nicht, sagt Gray, aber er hätte ein gutes Erinnerungsvermögen. Wer um 1980 in Queens, New York aufgewachsen ist, könnte einen Abgleich machen. Auf Zuschauer:innen aus anderen Regionen der Welt jedenfalls wirken die in gedeckten Herbstfarben gehaltenen Bilder von Kameramann Darius Khondji, der mit Gray bereits bei The Immigrant zusammengearbeitet hat, in ihrer Kodak-Film-Ästhetik völlig authentisch. Die Räume der Wohnung, in der der elfjährige Paul Graff (Michael Banks Repeta) aufwächst, sind düster, aber der erste Eindruck täuscht. Grays Figurenzeichnungen sind komplex, in moralischer und psychologischer Hinsicht. Nichts ist einfach dunkel, und nichts ist einwandfrei in Ordnung. Der Vater (Jeremy Strong), ein Klempner, will, dass es seine Kinder einmal besser haben als er und verprügelt seinen Sohn brachial mit dem Gürtel, wenn die Gefahr droht, dass der ausschert. Und trotzdem gelingt Gray so etwas wie ein liebevoller Blick auf diesen Mann, auch auf die Mutter (Anne Hathaway), die liebt und diszipliniert zugleich.

Gray, Armageddon Time
Banks Repeta, Anne Hathaway

Das Drama der Familie Graff (oder eines ihrer Dramen) ist das Drama des sozialen Aufstiegs der Außenseiter. Wie so oft seit Grays Debüt Little Odessa ist es außerdem ein Migrationsdrama. Die Eltern von Pauls Großvater Aaron (Anthony Hopkins) sind vor den Nazis aus der Ukraine in die USA geflohen, die Lager sind Tischgespräch, und am Abend erzählt Aaron, was seine Mutter damals erleben musste. Eine Trauma-Weitergabe im Modus von echter, tiefempfundener großväterlicher Liebe, im Wissen darum, dass man auch als Kind von diesen Dingen Kenntnis haben muss. Auch hier wieder, wie überhaupt in diesem Film, ein Wissen um die omnipräsente Ambivalenz, mit der man umgehen muss.

Das Gute und das Notwendige: Zeiten des Umbruchs erzählt seine Coming-of-age-Geschichte nicht als moralisierende Heldenerzählung, sondern als analytisches Porträt. Eine Moral hat er trotzdem. In einer zentralen Szene erklärt Aaron seinem Enkel in einem weisen, wunderschönen Monolog, was er zu tun hat, wenn die Schüler der gehassten Privatschule (auf die seine Eltern ihn schicken, um ihn in der Spur zu halten, und deren Besuch der Großvater finanziert), Pauls Freund Johnny (Jaylin Webb) rassistisch beleidigen: „Fuck‘ em. Next time those shmucks say anything bad about those black kids or those hispanics, you’ll be a Mensch to those kids, okay? You’re gonna be a Mensch.“

Am Ende wird es trotzdem Paul sein, der nach einer kurzsichtigen Aktion davonkommt, nicht Johnny. Am Beispiel des Rassismus, der die Freundschaft zweier Kinder hier zuerst beschwert und dann unmöglich macht, dekliniert Gray die Verwobenheit von Privatem, Ökonomie und Politik durch. Und an diesem Punkt sind Moral und der Wille zum Wahren, Schönen und Guten eher machtlos. James Gray lässt den seit einigen Jahren an Fahrt aufnehmenden Niedergang der USA in den Achtzigern beginnen. Der im Originaltitel des Films zitierte The-Clash-Song „Armagideon Time“ ist zweimal zu hören: „A lot of people won’t get no supper tonight“. Reagans Wahl steht kurz bevor, die Privatschule wird von der Trump-Familie finanziert. Und er zeigt die Gewalt des Sozialen am Mikrobeispiel: Johnny scheitert an der Schule und an den Institutionen, chancenlos von Anfang an, und verschwindet von der Bildfläche. Paul wiederum hat am Ende das kleine bisschen mehr Glück, das es braucht, um davonzukommen.

Zeiten des Umbruchs handelt davon, was es heißt, „a Mensch“ zu sein. Oder besser, weil es den Moment der Schönheit und Reinheit außerhalb der Phantasie von kitschnudeligen Autorinnen und Autoren nicht gibt, was es bedeuten würde, „a Mensch“ zu sein. Und was eben nicht (oder nur sehr selten) gelingt, weil die von den Menschen eingerichteten Verhältnisse es nun einmal alles andere als nahelegen. In den Momenten des Verlusts, der Liebe und der Freundschaft in diesem Film (und in seinem Blick auf die Kunst als Sehnsuchtsort) ist die Schönheit der Welt als Möglichkeit enthalten. Sie hebt sich von dem hier gar nicht dramatischen oder gar pompösen, sondern ganz alltäglichen, unvermeidbaren Schmerz und Elend immer wieder ab. James Gray gelingt es in Zeiten des Umbruchs mit einem ausgeprägten Gespür für Ambivalenzen, beides in Szene zu setzen. Nicht alternierend, sondern miteinander verwoben, als integrale Bestandteile desselben Bildes.

Flat auf Sky oder Sky X bzw. auf Disc bei Eurovideo/Hoanzl

Zeiten des Umbruchs / Armageddon Time
USA 2022, Regie James Gray
Mit Banks Repeta, Anthony Hopkins, Anne Hathaway, Jeremy Strong, Jaylin Webb
Laufzeit 114 Minuten