Sterben

Makaber-absurd-witziges von Matthias Glasner – im Kino

Harfouch, Glasner, Sterben
Sterben, 2024, Matthias Glasner

„Sterben“: Wie im richtigen Leben geht es zu in dieser Familie; und obwohl Matthias Glasners Film nicht nur ergreifend, sondern trotz Titel auch unterhaltsam ist, erteilen wir Popcorn-Verbot! Jetzt auch in Österreich im Kino.

Das ist natürlich schon so etwas wie ein Schlag ins Gesicht der Mainstream-Unterhaltung, einen Film „Sterben“ zu nennen und dann darin mal eben drei Stunden lang die echt harten Fragen zu verhandeln, die das Leben einem im Laufe des Lebens so stellt. Aber Matthias Glasner war ja noch nie der Mann fürs Weichgespülte, Leichtverdauliche. Glasner hat vielmehr stattdessen Brocken in die Kinolandschaft gestellt, mit denen musste das Publikum erstmal klar kommen – oder ihnen eben aus dem Weg gehen; Popcorn konnte man zu Filmen wie Der freie Wille (2006, über die Seelenqual eines Vergewaltigers) und Gnade (2012, über die Gewissensbisse einer Unfallflüchtigen) jedenfalls nicht fressen. Kann man auch zu Sterben nicht und sollte man ohnehin eh überhaupt nicht.

Sprechen wir also von Familie Lunies: Vater, Mutter, Sohn und Tochter; Gerd, Lissy, Tom und Ellen; Parkinson und Demenz, Vaginalkrebs und Nierenversagen, Dirigent und Patchworkvater, Alkoholikerin und loose cannon; niedersächsische Provinz, Berlin und Hamburg. Eine eigentlich ziemlich normale Familie im Deutschland der Gegenwart. Dazu Freunde, Kolleginnen und Nachbarn; sowie die titelgebende Komposition. Dabei handelt es sich um ein umwerfendes Stück moderner Musik in mehreren Variationen, das im Film das (postume) Opus magnum von Toms bestem Freund Bernard darstellt, und in Wirklichkeit geschrieben wurde von Lorenz Dangel, der dafür einen Deutschen Filmpreis(*) erhielt. Diese ergreifende, zu Tränen rührende Musik setzt Zäsuren, zusätzlich zu den Kapitelüberschriften, die Perspektiven benennen und den Fluss der Erzählung immer mal wieder neu ansetzen lassen. Es gibt Ordnung in diesem unbotmäßigen Geschichten-Konglomerat, aber sie nimmt sich selbst nicht allzu ernst, ist im Gegenteil jederzeit zur Kapitulation bereit. Denn das letzte Wort hat sowieso immer der Tod und davon abgesehen regiert das Chaos.

Ebendiese wirklichkeitsnahe Einschätzung dessen, was der Fall ist, macht Sterben so unterhaltsam; und zwar nicht nur im Sinne von kurzweilig, sondern auch im Sinne von: lustig, grotesk, absurd, makaber, komisch, witzig. Mitunter ist nicht zu entscheiden, ob Lachen oder Weinen oder beides gleichzeitig oder doch lieber nacheinander die angemessene Reaktion auf dieses oder jenes Ereignis wäre; es geht demnach zu wie im richtigen Leben; es ist wahr, und das ist halt hart.

Beispielsweise in jener bereits jetzt schon legendären Szene, in der Lissy und Tom nach der Beisetzung des Vaters – der im Pflegenotstand unspektakulär und erbärmlich verendet ist – zuhause an der Kaffeetafel sitzen und unmerklich in einen der grausamsten Austausche bitterer Wahrheiten hineinrutschen, der jemals auf einer Leinwand Platz fand. Die Luft bleibt einem weg, denn was Mutter und Sohn sich hier gegenseitig servieren, ist so nebenher-böse und unabsichtlich-gemein wie es authentisch ist: weil schließlich irgendwann einmal gesagt werden muss, was schon längst einmal hätte gesagt werden müssen (auch wenn man es letztlich doch besser für sich behalten hätte). Und es wird dieser Wechsel von Sätzen, die wie Pfeile ins Mark treffen, von Corinna Harfouch und Lars Eidinger in den Rollen von Lissy und Tom mit einer Disziplin und Empathie dargeboten, die dessen emotionale Sprengkraft noch unterstreicht. Wenn dann schließlich die Faust auf dem Kuchenteller niedergeht, bringt das keine Erlösung mit sich, es bleibt ein Zeichen der Hilflosigkeit. Wie im richtigen Leben eben.

Harfouch und Eidinger, Lilith Stangenberg als Ellen, Ronald Zehrfeld als ihr (verheirateter) Liebhaber, Robert Gwisdek als der depressive Komponist und nicht zu vergessen Hans-Uwe Bauer „als mein Vater“ (wie es in den Credits heißt) – das ist ein hochkarätiges Ensemble, das sich darüber im Klaren ist, was hier auf dem Spiel steht. Sterben ist eine aus dem Innersten und Tiefsten kommende und in beeindruckender Aufrichtigkeit formulierte Mitteilung existenzieller Erfahrungen. Glasner macht kein Geheimnis daraus, dass dieser Film auch von ihm selbst und seiner Familie handelt. Es ist seine Tochter, die im Handyvideo zu Beginn frontal in die Kamera fordert: „Du musst machen, was Dein Herz dir sagt. Du musst auf Dein Herz hören. Du musst.“

Und alle hören auf sie.

(*) Des weiteren erhielt Sterben, der in neun Kategorien nominiert war, Deutsche Filmpreise als Bester Spielfilm, Corinna Harfouch als Beste Hauptdarstellerin und Hans-Uwe Bauer als Bester Nebendarsteller. Bei der Berlinale konnte Glasner einen Silbernen Bären für das Beste Drehbuch entgegennehmen (wobei, die Bemerkung sei erlaubt, der Große Preis der Jury bei ihm besser aufgehoben gewesen wäre als bei Hong Sangsoo, der mit demselben offenbar rein gar nichts anzufangen wusste).

 

Sterben
DE 2024, Regie Matthias Glasner
Mit Corinna Harfouch, Lars Eidinger, Lilith Stangenberg, Ronald Zehrfeld, Anna Bederke, Hans-Uwe Bauer, Robert Gwisdek
Laufzeit 180 Minuten