May December

Maximales Unbehagen, inszeniert von Todd Haynes – im Kino

Julianne Moore, Natalie Portman in: May December, Todd Haynes, 2024
May December, 2023, Todd Haynes

„May December“: Verspieltes Moralstück um eine verbotene Beziehung, mit Natalie Portman als Julianne Moore – endlich auch bei uns im Kino

Um zu verstehen, was Todd Haynes mit seinem neuen Film macht, muss man zunächst eins verstehen: Es handelt sich hierbei um einen Mann, der seine Karriere damit begann, den Hungertod einer berühmten, magersüchtigen Sängerin mit Barbie-Puppen darzustellen. Superstar: The Karen Carpenter Story heißt das Kleinod aus dem Jahr 1987, man kann es kostenlos hier streamen. Sehr empfehlenswert!

Haynes liebt es üppig und nicht selten verwischt er die Grenze zwischen Melodram und Farce. Er untergräbt Erwartungen. In vielerlei Hinsicht funktioniert auch sein jüngster Film May December in ähnlicher Weise. Mit einem unheimlich kontroversen Thema geht Haynes auf seine eigene transgressive Weise um: mit bizarrem Humor.

Berichten zufolge ließ der Film bei seiner Premiere in Cannes 2023 sein Publikum laut lachen (Netflix reichte den Film übrigens als Komödie bei den Golden Globes ein). Ist er lustig? Das schon, aber man sollte sich davon keine Komödie im klassischen Sinn erhoffen. May December ist ein neckisches Moralstück, es evoziert unangenehme, mitunter obszöne Lacher, die einen zum Schaudern bringen.

Die unheilschwangere Musik im Vorspann bereitet die Bühne für ein Drama, das sich teils als Vintage-Erotikthriller und teils als selbstironische True-Crime-Seifenoper ausgibt. „Sich ausgeben“ ist dabei eine entschiedene Formulierung, denn Haynes’ Film steckt voller gespielter Gefühle. Nicht einmal dem Soundtrack können wir trauen. In der ersten Szene macht Julianne Moores Gracie den Kühlschrank auf. Schockstarre. Die Kamera fährt in Moores Gesicht hinein. Bedrohliche Klaviermusik setzt ein. Dann schnauft sie: „Ich glaube nicht, dass wir genug Hotdogs haben.“

Natalie Portman, Charles Melton in: May December, Todd Haynes 2024
Natalie Portman, Charles Melton

Ganz schön frech, was Todd Haynes hier macht. Der amerikanische Regisseur von so erstaunlichen Melodramen wie Carol (2015) oder Far from Heaven (2002) untermalt andere gewöhnliche Szenen auf ähnlich dramatische Weise; obwohl oder gerade weil es ein Film ist, der lose auf der wahren Geschichte der verurteilten Sexualstraftäterin Mary Kay Letourneau beruht: Julianne Moore spielt Gracie, die als 36-Jährige eine Affäre mit einem 13-Jährigen hatte. Weil sie im Hinterzimmer einer Tierhandlung beim Sex erwischt wurden, musste Mary Kay ins Gefängnis – und bekam hinter Gittern ihr erstes Kind von den Knaben. Das ist natürlich der Stoff, aus dem Boulevard-Träume gestrickt werden. Haynes zeigt uns, wie einfach es ist, daraus ein Stück Kitsch zu produzieren. Es ist sein erster Film ohne den legendären Ed Lachmann, der alle Haynes-Filme seit Far From Heaven belichtet hat (der hatte sich beim Dreh von El Conde die Hüfte gebrochen). Kelly Reichardts routinierter Stammkameramann Christopher Blauvelt sprang ein und hatte offensichtlich seinen Spaß mit diesem Camp von einem Film.

Wir treffen Gracie und Joe (Riverdale-Star Charles Melton) zwanzig Jahre später. Die beiden haben sich in einem kleinen Ort in Georgia ein scheinbar idyllisches Leben aufgebaut. Sie sind verheiratet, haben drei fast erwachsene Kinder und leben fröhlich in einem Haus am Meer. Ab und zu bekommen sie von Fremden ein Päckchen mit Fäkalien zugeschickt, was uns daran erinnert, das die Dinge so idyllisch nicht sein können, aber sie lieben einander. Das behaupten sie zumindest.

Alles ändert sich mit der Ankunft von Elizabeth, einer Hollywood-Schauspielerin im Menschenkostüm von Natalie Portman, welche Gracie in einem neuen Indie-Film spielen soll. Während Elizabeth ihr beim Backen und Einkaufen zusieht, beginnt sie Gracie auf unheimliche Weise zu imitieren. Moore verwendet ein leichtes Lispeln in ihrer Stimme. Portman wiederholt es. Sie studieren einander gegenseitig. Eine macht der anderen etwas vor. Dabei hält Todd Haynes nicht nur den beiden Frauen buchstäblich immer wieder den Spiegel vor (Ingmar Bergman lässt grüßen), sondern auch sich selbst und dem Kino, dem er sein Leben gewidmet hat.

Wer legt hier die geringste Moral an den Tag, ist wohl die Frage des Films. Der Regisseur? Die Skandal-Nudel? Oder die Schauspielerin, die sie benutzt, um einen Oscar zu gewinnen?

Und während die beiden Frauen einander ein Schauspiel-Match der Sonderklasse auf Augenhöhe liefern, erscheint der kindlich gebliebene Ehemann als einzige reale Person. In einer Reihe von herzzerreißenden Momenten, die Charles Melton wunderschön spielt, erleben wir seine aufkeimenden Zweifel. War er zu jung? Wurde er manipuliert? „Du hast mich verführt!“ schreit ihn Gracie an. Julianne Moore ist für Haynes schon lange eine Art Muse (es ist ihr fünfter gemeinsamer Film); sie spielt das weinerliche Opfer ganz herrlich.

Todd Haynes wollte, dass der Film „ein bestimmtes Gefühl des Unbehagens“ erzeugt: mischief. Das ist ihm hervorragend gelungen. Das Gefühl wird durch die prickelnde Musik noch verstärkt, die er einem anderen Film entlehnt hat. Die Partitur von Marcelo Zarvos stammt eigentlich von Michel Legrands Musik für Joseph Loseys Liebesdrama The Go-Between aus dem Jahr 1971. Beide Filme drehen sich um verbotene Liebe, aber was noch wichtiger ist: Beide Filme handeln von einem Kind, das zu jung ist, um zu verstehen, wie es manipuliert wird.

 

May December
USA 2023, Regie Todd Haynes
Mit Julianne Moore, Natalie Portman, Charles Melton
Laufzeit 117 Minuten