Labour of Love

Erstaunlicher Tierfilm: „Cow“ von Andrea Arnold – auf Mubi bzw. im Wr. Stadtkino

Cow, 2021, Andrea Arnold

In ihrem radikal direkten Film „Cow“ braucht Andrea Arnold keine Vermenschlichungsstrategie, sondern lässt uns das Tier als das wahrnehmen, was es ist: ein gefühlsfähiges Wesen.

Eine Kamera und eine Kuh, dazu Geräusche, das ist ein maximal spartanisches Setting für anderthalb Stunden. Vier Jahre lang haben Andrea Arnold und ihr Team (wichtig hier vor allem der Mann vom Sound Department, Nikky French) immer wieder die Kuh Luma, die auf einer Milchfarm in Kent lebt, besucht und sie gefilmt. Der erste Eindruck, den die Bilder von Cow einem aufdrängen, ist der einer radikalen Direktheit. Die Handkamera ist fast ununterbrochen dicht am Körper der Kuh, gleich zu Anfang versinkt sie tief in ihren Augen. Ihr Film sei „a labour of love“, hat Arnold erklärt.

Das Erstaunliche ist, dass Cow sich für die Vermittlung dieser Liebe nicht, wie in konventionellen Tierdokus häufig, der Anthropomorphisierung bedient. Vielmehr wird jeder projektive Impuls – das Menschliche im Anderen erkennen et cetera – von der Kamera rigoros unterbunden. Arnold markiert ständig Differenzen und filmt zum Beispiel ausgiebig, wie Luma nach der Geburt ihres Kalbes mit raushängender Nabelschnur durch den Stall läuft. Die Bilder sind dreckig und, naja, tierisch halt. Es gibt keine Ästhetisierung, jedes Geschehen soll direkt vom Bild ins Auge. Und es erschließt sich erst beim zweiten und wahrscheinlich mehr noch beim dritten Sehen, wie kunstvoll und subtil die Szenen gebaut sind.

Das Gleiche gilt für die Tonspur, für die die vor Ort aufgenommenen Tiergeräusche bis ins kleinste Detail kalibriert worden sind. Allein der Musikeinsatz wäre einen eigenen Text wert. Zu hören sind, so die Suggestion, nur Songs, die über die Anlage des Stalls laufen. Aber es ist nicht ausgeschlossen, dass Arnold an einem Drehtag um „Fairytale in New York“ von den Pogues gebeten hat. Egal wie, es wirkt als sei es echt, und Bildgeschehen und Soundspur verzahnen sich hier, wie schon in Arnolds Filmen Fish Tank und American Honey, in einer Weise, die emotionale Durchschlagskraft mit Beiläufigkeit verbindet.

Das Erstaunlichste an Cow ist, dass man sich als Zuschauer:in, unterstelle ich mal, auch dann nicht langweilt, wenn man nicht durch die harte Schule des Essayfilmsehens gegangen ist und beispielsweise Andy Warhols Empire oder das Gesamtwerk von Lav Diaz (oder andere Monumente der Filmgeschichte) durchgestanden hat. Das liegt, vermute ich, genau an der Subtilität der Konstruktion.

Zur Anthropomorphisierungsvermeidung gehört hier auch, dass man mit diesen Bildern lernt, das Tier als zu Gefühlen befähigtes Wesen wahrzunehmen. Also nicht einfach nur zu wissen, dass es so ist, das könnte man ja auch nachlesen. Sondern zu spüren, was es heißt und zu sehen, dass der Schmerzausdruck von Kühen ein anderer ist als beim Menschen; dass auch Kühe, eventuell, die Stille der Nacht und den Mondschein genießen können; dass es gut ist, dass Kühe nicht wissen können, was eine Bolzenschusspistole ist.

Gleichwohl heißt dieser Film aus gutem Grund „Cow“ und nicht etwa „Luma“. Die Individualisierung wäre schon Kitsch, der zum Beispiel in Wiktor Kossakowskis von der Grundkonstruktion her vergleichbarem (aber auf andere Weise schönem) Gunda noch enthalten ist. Die Kamera in Andrea Arnolds Filmen war schon immer nah an den Körpern der Figuren, und die Tierleiber eigenen sich ohne Nachbearbeitung, Filter und schmeichelhafte Perspektiven nun einmal nicht für klassische Coffeetable-Ästhetik. Außer halt, man fängt wie Kossakowski Bilder von ihnen in kontrastreichem Postkartenschwarzweiß ein. Den Film so zu nennen, dass er eine Art aus der Gattung des Hausrindes exemplarisch meint und kein individuelles Wesen, ist eine kluge Entscheidung und markiert die Grenze zu anderen Gattungen. Und eben auch die zu einer anderen Spezies, nämlich unserer.

Wir sehen zwei Geburten, Nahrungsaufnahme, Protest bei der Trennung vom eigenen Nachwuchs, Gemolkenwerden. Und in den sagenhaft kurzweiligen neunzig Minuten, die das alles dauert, entsteht eine Verbindung zwischen Bild und Zuschauerauge, die diese Differenz nicht weglügt. Am Ende wird einem diese Verbindung wieder genommen. Und man überlegt, nie mehr Fleisch zu essen.

 

Cow
Großbritannien 2021, Regie Andrea Arnold
Mit The Dairy Cattle and People of Park Farm
Laufzeit 94 Minuten