Ray & Liz (2018)

Bemerkenswerter britischer Kitchen-Sink-Realismus – bei Mubi

Smith, Billingham, Ray & Liz
Ray & Liz, 2018, Richard Billingham

„Ray & Liz“: Richard Billingham wuchs in einem heruntergekommenen Sozialbau im Großbritannien der Thatcher-Ära auf, in einer Gegend am Stadtrand von Birmingham, gemeinhin als „Black Country“ bekannt. Und wie der Name schon sagt, wuchs er unter schwarzen Umständen auf, wo die wütende Mutter zweier Kinder einem komatösen, betrunkenen Vater mit der scharfen Kante ihres Schuhabsatzes ins Gesicht schlägt, und der Hund das Erbrochene desselben Mannes vom Boden aufschleckt.

Der für den Turner-Preis nominierte Künstler wurde berühmt, indem er seine Arbeiterfamilie jahrelang mit seiner sozialrealistischen „Kitchen Sink“-Fotografie dokumentierte, die im Jahr 2018 dann in seinem ersten und bislang einzigem Spielfilm Ray & Liz kulminierte.

Als wir den ins Alter gekommenen Ray (Patrick Romer) aus dem Titel zum ersten Mal sehen, verlässt er selten sein von Fruchtfliegen verseuchtes Zimmer, hört Radio, sieht zu, wie das Leben an ihm vorüberzieht, und trinkt endlos selbstgebrautes Bier. Seine betrunkenen Träumereien versetzen uns dann zurück in das abgewrackte Zuhause eines jüngeren Ray (jetzt gespielt von Justin Salinger) in den 1980ern, wo er gemeinsam mit seiner aufbrausenden, kettenrauchenden Frau Liz (eine fantastische Ella Smith) in einer Sozialwohnung landet und in den Alkoholismus abdriftet. Die Söhne verwahrlosen. Ein Wunder, dass sie in diesem Soziotop überhaupt wachsen.

Nacherzählt klingt es wie Poverty Porn, aber der körnige 16-mm-Film (Kameramann war Daniel Landin, Under the Skin – siehe Appendix hier) bedient wirklich keinerlei Bedürfnisse beim Betrachten. Es fühlt sich nicht voyeuristisch, dafür aber sehr persönlich an. Anstatt seine Vergangenheit rückwirkend nach gekünstelter Poesie zu durchsuchen, zeigt Billingham seine (fiktive) Familie mit einer schonungslosen Ehrlichkeit und fast schon anthropologischen Qualität. Jedes Detail ist gruselig und perfekt. Eine Kakerlake, die auf dem Fensterbrett krabbelt. Die Tapete, die von den Wänden kommt. Man kann die Härchen an einem unrasierten Kinn zählen. Eine bewegende künstlerische Leistung voller beißender Zärtlichkeit und vielleicht auch ein stückweit Vergebung.

 

Ray & Liz
UK 2018, Regie Richard Billingham
Mit Ella Smith, Justin Salinger, Patrick Romer, Sam Plant
Laufzeit 108 Minuten