The Greatest of All Times!

Streaming-Tipps KW 3: Muhammad Ali

Muhammad Ali, 2021, Ken Burns, Sarah Burns, David McMahon

Ein Sofa Surfer spezial über Muhammad Ali, der diese Woche achtzig geworden wäre. Zu diesem Anlass hat arte.tv einen brandneuen, erhellenden Dok-Vierteiler herausgebracht.

Als Cassius Marcellus Clay Jr. im Sommer 1955 die zerschlagenen Reste von Emmett Tills Gesicht sah, war er gerade mal ein Jahr jünger als der Ermordete; der hatte vor einem Monat erst seinen 14. Geburtstag gefeiert. Jener Junge aus Chicago war während seiner Ferien bei Verwandten way down south in Mississippi, beging den Fehler, eine weiße Frau anzuschäkern (was tatsächlich passiert war, ließ sich nie gültig herausfinden) und wurde dafür gelyncht. Die beiden Mörder waren besonders darüber aufgebracht, dass Emmett Till Widerworte gab und sich nicht einschüchtern ließ. Nach den Gründen für die Tat gefragt, gab einer der beiden zu Protokoll: „What else could I do? He thought he was as good as any white man.“

Emmett Till war ein hübscher Junge gewesen, doch als man ihn fand, war er nicht mehr zu erkennen, was nicht nur daran lag, dass seine Leiche ein paar Tage im Wasser gelegen hatte. Emmetts Mutter aber beharrte auf einem offenen Sarg, alle Welt sollte sehen, was man ihrem Jungen angetan hatte. So kam es, dass Tausende das entstellte Gesicht sahen. Darunter eben auch Clay Junior, der es, wie so viele, nicht mehr aus seinem Kopf brachte.

Emmett Tills offener Sarg zählt wie Rosa Parks im Dezember 1955 folgende Weigerung, sich in den hinteren Teil des Busses zu verfügen, zu den katalytisch wirkenden Ereignissen der Bürgerrechtsbewegung in den USA. Einer dieser „Jetzt reicht’s!“-Momente, die in den Lauf der Geschichte eingreifen. Und das tat in der Folge auch Cassius Clay, der sich ab 1964 Muhammad Ali nannte und zum Islam bekannte und der gleichermaßen nicht still hielt, nicht bescheiden war, sich nicht einschüchtern ließ. Ali, der sagte, was er dachte, und der darum kämpfte, als schwarzer Mann in Amerika stolz und frei sein zu können. Wer verstehen will, warum Muhammad Ali den Titel „der Größte“ führt, der muss in Emmett Tills Gesicht schauen.

Ich erinnere mich, dass mein Vater mitten in der Nacht aufstand, um Muhammad Ali kämpfen zu sehen; ich erinnere mich, dass er sowohl von Cassius Clay als auch von Muhammad Ali sprach, und mir (verwirrt) die Sache mit dem Namenswechsel erklärte, ohne auf den historischen und den religiösen Hintergrund einzugehen. Ich bin mir sicher, dass es meinen Vater leise amüsiert hat, wie Muhammad „I am the Greatest!“ Ali derart unverfroren die eigene Großartigkeit propagierte, denn mein Vater kam aus Franken und war ein bescheidener Mensch. Sich dergestalt ins Rampenlicht zu stellen, wäre ihm nie eingefallen, freilich konnte er auch nicht boxen.

Doch bin ich aufgewachsen mit dem größten Respekt für diesen schwarzen Mann in den fernen USA und umso mehr überraschte es mich, als ich einige Jahre später feststellen musste, dass Muhammad Ali keineswegs schon immer und für alle und in Ewigkeit „der Größte“ war. Sondern dass diese Größe vielmehr aus einem Kontext erwachsen war, der sich zusammensetzte aus: Bürgerrechtsbewegung, Nation of Islam und Malcolm X, Kriegsdienstverweigerung, Lizenzentzug und Strafanzeige, Selbstwertgefühl, Sturheit und, vor allem: Furchtlosigkeit.

Leider tendiert unsere multimedial-digitale Gegenwart mit ihren popkulturellen Strategien im Kontext einer umfassenden Unterhaltungsindustrie zu einer affirmativen Aneignung und Gleichmacherei, die den Ikonen des medialen Zeitalters Dimension und Tiefe raubt. Insofern ist es also jederzeit geboten, denselben ihre historische Wahrheit zurückzugeben und nach dem Auftrag zu forschen, den sie uns hinterlassen haben. Anders gesagt: Wer, wie ich seinerzeit, den Eindruck haben sollte, hinsichtlich Muhammad Alis Leben und Wirken die eine oder andere Wissenslücke schließen zu können, dem- bzw. derjenigen sei die brandneue, außerordentlich verdienstreiche, umfassend gründliche und erhellende Dokumentation mit dem Titel Muhammad Ali ans Herz gelegt, deren siebeneinhalb Stunden in vier Teilen wie im Flug vergehen und die derzeit (und noch bis zum 11. März 2022) in der ARTE-Mediathek verfügbar ist.

Die Verantwortlichen, Ken Burns, Sarah Burns und David McMahon, haben keine Mühe (und wohl auch keine Kosten) gescheut, kein Archiv unbesucht, kein Fotoalbum unbesehen, keine Zeitzeugin und keinen Zeitzeugen unbefragt gelassen und aus ihrem Mount Everest an zusammengetragenem Material eine großartig unterhaltsame Montage geschaffen, die wie ihr Gegenstand quecksilbert, in allen Farben schillert, in jede Richtung ausgreift, nicht festzunageln ist, blitzschnelles Tempo vorlegt, immer noch irgendwo etwas Neues entdeckt, endlos fasziniert und nonchalant austeilt. Am Ende ist man natürlich k.o., aber das gehört sich so.

Natürlich wird, und auch das ist nur angemessen, viel geredet. Allerdings schmerzt es da nun doch, dass keine OmU-Fassung im ARTE-Angebot ist, sondern nur eine mit eingesprochener (wahlweise deutscher oder französischer) Übersetzung. Das ist im Fall der deutschen Erzählstimme lässlich, die ruhig und gemessen durch den Dschungel der historischen Fakten führt und Charly Hübner gehört, dem schließlich jede:r gerne zuhört. Wenn aber die eingesprochene Übersetzung Alis Auslassungen betrifft, seine Diss-Reime, seine wüsten Fantastereien, seine großmäulige Eigenwerbung, die blumigen Beschimpfungen der Gegner, die Scherze mit den Journalisten, kurz: seine ganz eigene Art der kommunikativen Poesie, dann möchte man doch bittere Tränen weinen.

Vor allem, wenn es ernst wird, und das wird es öfters, Muhammad Ali sich auf dem Boden der Tatsachen über die harten Fakten äußert und etwas spürbar wird von jenem Kampfgeist, der im Ring ein Ventil hatte, der als Energie zur Befreiung aber noch ganz Anderes antrieb. Dann fällt auf, dass oft ein kleinkurzes Schweigen eintrat, wenn Ali sich politisch/kritisch äußerte; gleichsam so, als lausche er seinen eigenen Worten nach, sie in ihrer Wahrheit bestätigend; zugleich trat eine Schrecksekunde ein, in der die soeben formulierte Herausforderung sich erst richtig entfaltete. Kleine Bomben vermeintlicher Unverschämtheit, die lediglich jedes Mal aufs Neue bewiesen: the times they are a-changing.

„My enemy is the white people, not Viet Cong or Chinese or Japanese. You my opposer when I want freedom. You my opposer when I want justice. You my opposer when I want equality. You won’t even stand up for me in America for my religious beliefs – and you want me to go somewhere and fight, but you won’t even stand up for me here at home?“ (Muhammad Ali zur Begründung seiner Wehrdienstverweigerung.)

Man erfährt im Verlauf der siebeneinhalb Stunden von Muhammad Ali viel Unerwartetes, Überraschendes, Unerhörtes. Beispielsweise, dass er lange und ausgiebig ausgebuht worden war, wenn er in den Ring stieg, dass er beschimpft wurde und Morddrohungen erhielt. Muhammad Ali war ein Stachel im Fleisch des weißen Amerika, nicht weil er als politischer Aktivist auf Demonstrationen Transparente schwang, sondern weil sein Name als Boxweltmeister im Schwergewicht auf der ganzen Welt ein Begriff war und, ja, schweres Gewicht hatte.

Zur ikonischen Figur des 20. Jahrhunderts wurde Muhammad Ali – dem die ganze Welt zu Füßen lag, als er 1996 von Parkinson gezeichnet das Olympische Feuer der Sommerspiele in Atlanta, Georgia, entzündete – nicht (nur) wegen seines unverwechselbaren, so kraftvollen wie eleganten Box-Stils – „float like a butterfly, sting like a bee!“. Er ist vielmehr der Größte und der Champion of the World, weil er die wichtigsten Kämpfe in seinem Leben nicht nur für sich und nicht mit den Fäusten gefochten hat, sondern als Redner und letztlich für uns alle.

Take this, sucker!

 

Muhammad Ali

geboren am 17. Januar 1942 in Louisville, Kentucky

gestorben am 3. Juni 2016 in Scottsdale, Arizona

 

In Erinnerung an Muhammad Ali hat auch die ARD in ihren Archiven gegraben und bietet in ihrer Mediathek Aufzeichnungen einiger von Alis wichtigsten Boxkämpfen zur gefälligen Besichtigung an, darunter den sogenannte „Kampf des Jahrhunderts“ Cassius Clay gegen Joe Frazier am 8. März 1971 im New Yorker Madison Square Garden. Außerdem im Angebot: der Dokumentarfilm-Kracher When We Were Kings (Leon Gast, 1996), der sich ausführlich dem legendären „Rumble in the Jungle“ (1974 in Zaire, Ali gegen Foreman) sowie dem daran angeschlossenen Musikfestival widmet.

Und hier noch die Streaming-Tipps von voriger Woche.