Olympischer Ennui

Streaming-Tipp KW 51/52: das Finale von „Westworld“

Westworld S4, 2022, Lisa Joy, Jonathan Nolan

„Westworld“: HBO hat die bereits geplante fünfte Staffel abgesagt. Abschließende Bemerkungen zur Meilenstein-Sci-Fi-Serie von Lisa Joy und Jonathan Nolan, Spoiler selbstverständlich inklusive. Auf Sky zu sehen bzw. auf Disc erhältlich.

„Once more unto the breach, dear friends, once more …“, so beginnt Henry V. seine Kampfesmut-Motivationsrede im gleichnamigen Königsdrama von William Shakespeare. (3. Akt, 1. Szene, um genau zu sein, und nicht zu verwechseln mit der berühmten St.-Crispins-Tag-Rede, die erst im 4. Akt, 3. Szene gehalten wird.)

Noch einmal, ein letztes Mal in die Bresche springen also, und ein für alle Mal klären, wer fürderhin das Sagen hat im strittigen Gebiet. Das war 1415 so, als Heinrich mit seinen Mannen die Stadt Harfleur in der Normandie einzunehmen trachtete, und das ist 2060 respektive 2083 so, in jenen Jahren, in denen die Handlung der vierten Staffel der von HBO produzierten SF-Serie WestworldThe Choice untertitelt – angesiedelt ist.

Joy, Nolan, Westworld S4
Thandiwe Newton, Aaron Paul

Sieben Jahre sind vergangen, seit Maeve und Caleb am Ende von Staffel 3 (Untertitel: The New World) Bewusstsein und Wissen der Androidin (in der Terminologie der Serie: „Host“) Dolores in den Riesencomputer Rehoboam eingespeist und auf diese Weise die Menschheit von der Diktatur des Algorithmus befreit haben. Damit kehrten der freie Wille und die Freiheit der Wahl zurück ins Leben des Homo sapiens und die Hosts mussten sehen, wo sie blieben. Die Welt, die Dolores in den unterschiedlichen Gestalten, die sie für sich geklont hatte (unter anderem jene von Karrierefrau und Corporate-Fuzzi Charlotte), im Verlauf der dritten Staffel für ihresgleichen (darunter jene, die sich ins Digital-Paradies „Sublime“ gerettet hatten) zu schaffen versuchte, blieb Utopie. Zu den Überlebenden des Umsturzes zählte nun aber, neben Maeve und Caleb, ausgerechnet jene Charlotte, die wiederum sich von ihrer Ursprungscodierung – nicht ganz überraschend, handelt es sich bei der doch um Dolores‘ und damit um die eines empfindungsfähigen Wesens – dissoziiert und die Seiten gewechselt hatte. Äh, welche Seiten?

An der Verwischung der Grenze zwischen K.I./Androide und Mensch (dem Menschen bekanntlich ein Wolf) arbeiten sich die Showrunner Lisa Joy und Jonathan Nolan ab, seit Dolores Abernathy 2016 in Episode 1 die Augen aufschlug und das Spiel eröffnete. In immer neuen Variationen und mit immer neuen Finten traten seither die digital respektive analog determinierten Bewusstseinsformen gegeneinander an, Ebenen türmten sich aufeinander und stürzten wieder ein, Spiegelungen führten ins Unendliche und erwiesen sich dann als trügerisch, das Täuschungsmanöver war der Narration liebstes Kind: das Kaninchen, dem Alice in den Abgrund folgt, und das andernorts aus einem Hut gezaubert wird. Vorzugsweise dem Hut des Schwarzen Mannes, Dolores‘ Nemesis William, der im Themenpark Westworld all seinen bösen Trieben freien Lauf ließ; ein Mr. Hyde, zu dem es den Dr. Jekyll möglicherweise nie gegeben hat, von Ed Harris mit einer geradezu beunruhigend wirkenden, leidenschaftlichen Konsequenz verkörpert.

Wohlan denn: „Once more unto the breach, dear friends, once more …“ In der Hoffnung auch, dass die Verhältnisse geordnet und die Fragen beantwortet werden, denn HBO hat angesichts der mit Staffel 3 einsetzenden und während Staffel 4 anhaltenden Zuschauerabwanderung keine Fortsetzung mehr in Auftrag gegeben. (Dass ein anderer Streamer einspringt, um die bereits konzipierte fünfte Staffel zu retten, ist aus heutiger Sicht unwahrscheinlich.)

Während nun Maeve, versteckt im winterlichen Wald, sich, wie es ihre zentrale Motivation („Cornerstone“) verlangt, nach ihrer Tochter sehnt; und während Caleb, inzwischen Familienvater, feststellen muss, dass „eine Vergangenheit haben“ immer auch bedeutet, von ihr eingeholt werden zu können; während all dessen war auch Charlotte nicht faul und hat den Spieß kurzerhand umgedreht: In ihrer Zukunft gibt es Spielarenen, in denen die Hosts mit den Menschen, die sie bevölkern, Schabernack treiben können. Die Narrative, nach denen dies geschieht, werden erdacht in einer Firma namens Olympiad Entertainment – die Namensgebung in Westworld war noch nie sonderlich subtil und ist Teil des Vergnügens an ihrer Rezeption. Sieben Schöpfungsjahre später also bekommen wir es mit olympischen Göttern zu tun, die, wir erinnern uns, in der Antike nicht wenig Spaß daran hatten, sich in die Geschicke der Menschen einzumischen, sie zu lenken, zu erheben oder zu vernichten. Der trojanische Krieg ist dafür eines der grausamsten Beispiele und auch Zeus‘ unsittlich-notgeiles Treiben soll hier nicht verschwiegen werden.

Die Ausgangslage ist vielversprechend, die Mindfucks stehen in den Startlöchern, die Möglichkeiten ihres Einsatzes sind zahlreich, ein ordentliches Feuerwerk der Aha!- und Oho!-Effekte scheint unmittelbar bevorzustehen. Doch dann: ein Rohrkrepierer nach dem anderen! Weil jetzt nämlich nicht mehr nur Maeve sich nach ihrer ins Sublime entschwundenen Tochter sehnen muss, sondern auch Caleb nach der seinen schmachten, sowie umgekehrt. Der US-amerikanische Hang zur Sentimentalität feiert einmal mehr unnötige fröhliche Urständ‘. Das Thema Familie nimmt die Gnadenlosigkeit aus der Zivilisationskritik, lenkt von der technologischen Debatte ab, die in Westworld von Beginn an mit Vehemenz geführt wird, und verwässert deren analytische Schärfe. Es ist ein Jammer! Sogar der Schwarze Mann, der sich redlich Mühe gibt, und Charlotte, die sich wahrlich nicht lumpen lässt, schwächeln im Kampf gegen Hollywood’sche Schmonzetten-Konventionen.

Es ist genügend da, ja, um diese Staffel noch sehenswert zu machen und den Status der Serie insgesamt als Meilenstein nicht zu gefährden; aber es stimmt doch ein wenig wehmütig, dass der Bang!, mit dem sie begann, in einem Whimper endet.

„Westworld“ ist gesammelt auf Sky zu sehen bzw. nunmehr auch bei Warner Home Video auf DVD/Blu-ray erhältlich.
Weitere Streaming-Empfehlungen finden Sie u.a. hier und in den rund 55 weiteren Ausgaben der Rubrik Sofa Surfer, die wir bislang veröffentlicht haben. Zum Jahresausklang erscheint am 30.12. unser Best-of-Serien-2022.
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