Das Vielleicht des Lebens

Streaming-Tipps KW 10: „Fleishman“ et al.

Brodesser-Akner, Kaplan, Eisenberg: Fleishman Is in Trouble
Fleishman Is in Trouble, 2022–, Taffy Brodesser-Akner © Linda Kallerus/FX

„Fleishman Is in Trouble“: eine Serie wie eine Woody-Allen-Komödie aus der Sicht einer Frau (Disney+); dazu ein tragikomisch-drolliges Kanu-Komplott (Canal+)

Was wäre gewesen, wenn…? Es gibt Fragen nach dem Vielleicht und dem – auf gut Österreichisch – „Hättiwari“ im Leben, die eine Person natürlich nicht stellen sollte. Denn sie sind unbeantwortbar. In Fleishman Is in Trouble geht es um Menschen, die sich diese schwierigen Fragen trotzdem stellen, sobald sie die Mitte ihres Lebens erreichen.  Wie bin ich hier gelandet?!

Gleich zu Beginn steht die Welt kopf. Die Kamera schwebt über einer verkehrten Skyline von Manhattan, Backsteingebäude drängen sich in der oberen Hälfte des Bildes, darunter ein blauer Himmel. Es ist eine passende Einführung für eine Geschichte, die uns ständig den Boden unter den Füßen wegziehen wird. Was als witzige, ironische Single-Comedy über einen neurotischen New Yorker Alleinerzieher in der Tradition von Woody Allen beginnt (Jesse Eisenberg hat das erforderliche nervöse Zucken), wird im Laufe der Zeit zu einer tiefgreifenden Serie über die Frauen in seinem Leben (Claire Danes und Lizzy Caplan in herrlichem Meltdown-Modus). Am Ende ist es eine Geschichte über alles: Älterwerden, Identität, Reue, Vergeben, die Liebe.

Der Mann heißt Toby Fleishman und ist Hepatologe von Beruf. Eines Morgens wacht er in seiner New Yorker Wohnung auf und muss feststellen, dass seine Ex-Frau Rachel (Danes) ihre beiden Kinder stillschweigend bei ihm abgesetzt hat und spurlos verschwunden ist. Hat sie ihre Kinder einfach verlassen? Die Wahrheit ist natürlich komplizierter. Eine späte Episode wird aus Rachels Sicht im Rashomon-Stil erzählt.  Aber zunächst werden aus Tagen Wochen, wir sehen überall Hinweise für das Rätsel um Rachels Verschwinden, und währenddessen taucht Toby in die neue, überbordende Welt des Tinder-Datings ein. Fleishman versucht Job und Kinder unter einen Hut zu bringen und verbringt Zeit mit seinen alten Freunden Libby und Seth (Caplan und Adam Brody), die sich – siehe oben – fragen, ob sie die richtigen Entscheidungen im Leben getroffen haben.

Libby ist diejenige, die uns die Geschichte erzählt und so erleben wir das Leben dieses Mannes durch die Augen einer Frau. Das ist der Kunstgriff dieser Serie: Während Libby die Geschichte ihres Freundes im Voice-Over erzählt, fängt sie an, über ihre eigene nachzudenken, und wir als Zuseher:innen überlegen, welche Geschichten wir denn für erzählenswert halten. „Das war etwas, was ich mit Sicherheit wusste“, sagt sie an einer Stelle, „dass dies der einzige Weg war, jemanden dazu zu bringen, einer Frau zuzuhören – ihre Geschichte durch einen Mann zu erzählen.“

Libby ist die fiktive Version der Journalistin Taffy Brodesser-Akner. Die Amerikanerin hat ihren eigenen messerscharfen Debütroman mit Hilfe von etablierten Indie-Regisseuren wie Valerie Faris & Jonathan Dayton (Little Miss Sunshine) fachgerecht in diesen Achtteiler umgewandelt. Lizzy Caplan ist wunderbar in der Rolle, besonders wenn sie kleine Wahrheiten über das Leben murmelt. „Erinnerst du dich, als Facebook herauskam und du nach jeder einzelnen Person gesucht hast, die du kanntest? Nur um herauszufinden, dass sie die gleichen einfachen Erwachsenen wie ihre Eltern geworden sind?“, sagt sie traurig an einer Stelle zu Toby. Es liegt natürlich eine gewisse Ironie darin, dass sie es ausgerechnet zu Jesse Eisenberg sagt, dem Schauspieler, der in David Finchers 2010er The Social Network den Facebook-Gründer gespielt hat.

Obwohl die Geschichte fest in der spezifischen Seifenblase und Sozialsatire der Upper East Side von Manhattan verwurzelt ist, mit teuren Yuppie-Schulen, Wochenendhäusern in den Hamptons und Pilates-Studios, versteht die Serie eine universelle Wahrheit: dass viele gegensätzliche Dinge auf einmal wahr sein können, und dass die schmerzliche Erfahrung, sich zu entlieben, von sich selbst, und von anderen, allgemeingültig ist.

Eisenberg als Fleishman
Jesse Eisenberg als plötzlicher Alleinerzieher Toby Fleishman

Wir wollen nicht ins Wochenende gehen, ohne ein neues britisches Kleinod auf Canal+ zu empfehlen. Erzählt wird auch dieses von einer Frau, die eindeutig nicht die richtige Entscheidung getroffen hat. „Based on a true story“ ist inzwischen zum inflationären Intro von Serien geworden, aber in diesem Fall fühlt es sich notwendig an – die überaus drollige, vierteilige Tragikomödie The Thief, His Wife and the Canoe von Chris Lang unter der Regie von Richard Laxton wirkt nämlich überaus bizarr.

John und Anne Darwin, zwei niedliche, unscheinbare britische Eheleute, waren kurz davor, ihren Traum zu verwirklichen: schuldenfrei in Panama leben. Er verschwand im Frühling 2002 mit einem roten Kanu (daher sein Spitzname „Kanu-Mann“), täuschte seinen Unfalltod vor und versteckte sich dann fast fünf Jahre lang im Haus neben seiner Frau, die er zur unfreiwilligen Komplizin machte. Sie spielte mit, weil sie ihn nicht verlieren wollte.

Nachdem John in The Thief, His Wife and the Canoe für tot erklärt wird, kommt Anne nach Hause und öffnet eine kleine Tür in ihrem Schlafzimmer zum angrenzenden Haus, in dem er lebt. Er kommt heraus, sie kichern und küssen sich (wunderbar gespielt von Eddie Marsan und Monica Dolan). Johne und Anne werden ihre beiden erwachsenen Söhne zu Waisen machen und eine saftige Lebensversicherung abkassieren – bis 2007 alles auffliegt und die beiden im Gefängnis landen.

Eddie Marsan kennt man z.B. aus Filmen wie 21 Gramm oder Vera Drake. Er ist ein beliebter englischer Nebendarsteller, der hier ein realitätsfremdes Funkeln in den Augen hat, das nur als wahnhafter Narzissmus beschrieben werden kann. So wie er es sieht, braucht es schon ein „besonderes Gehirn“ wie seines, um gegen den Strich zu denken. Noch faszinierender ist das Realitätskonstrukt seiner Frau. John hat die Lüge erfunden, aber Anne muss sie jeden Tag leben. Sie schmeißt ihre Arme um den Hals ihres Sohnes und schluchzt: „Er ist nicht mehr, ich habe ihn verloren!“ Dabei hat sie ihren Mann selbst zum Bahnhof gebracht, damit er untertauchen kann. Es wäre lustig, wäre es nicht so traurig.

Bonustipp: Bis 16. März kann man in der ARTE Mediathek noch den Dokumentarfilm Clint Eastwood – Der Letzte seiner Art sehen. Und wer Eastwoods American Sniper (2014) noch nicht gesehen und einen Netflix-Anschluss hat, könnte hier klicken.