„Bardo“: Alejandro González Iñárritu blickt auf sein Leben zurück (auf Netflix). Sam Rockwell fliegt zum Mond (auf Mubi) und Andrew Garfield hat eine Glaubenskrise (auf Disney+).
Beim neuen Film von Alejandro González Iñárritu schwankt man vielleicht, ob man gerade den schlechtesten oder den besten Film des Jahres gesehen hat. Bardo (Netflix) ist ein spanischsprachiger, surrealistischer und insgesamt großspuriger Streifzug durch den schweren Kopf des mexikanischen Filmemachers – nicht einfach, aber ein kleines Wunderwerk, wenn man sich darauf einlässt.
Ein Zug wird hier zu einem schwappenden Aquarium. Ein neugeborenes Baby wird zurück in den Geburtskanal gedrückt. Ein Interview in einer Talkshow verschwimmt zu einer höllischen Party, die in eine imposante historische Nachstellung übergeht, in der unser Held auf den mexikanischen Eroberer Hernán Cortés trifft, der auf einem Berg toter indigener Mexikaner steht. Untertitel: Die erfundene Chronik einer Handvoll Wahrheiten.
Iñárritu hat ganz offensichtlich viele Gedanken und Gefühle, und er hat versucht, sie alle in einen dreistündigen Film zu packen (inzwischen um etwa zwanzig Minuten gekürzt). Sein Alter Ego, das durch die surrealistischen Tableaus von Bardo spaziert (gedreht von Kameramann Darius Khondji) und über sein Leben grübelt, heißt Silverio Gama und wird gespielt von dem wunderbaren spanisch-mexikanischen Schauspieler Daniel Giménez Cacho. Der Einfluss der magischen Realisten und von Filmemachern wie Federico Fellini und Luis Buñuel ist in Bardo spürbar. Und natürlich zitiert Iñárritu auch sich selbst, von Amores Perros (2000) über Birdman (2014) bis hin zu The Revenant (2015).
Der Regisseur, jetzt 59 Jahre alt, hat erklärt, die Idee für den Film sei ihm gekommen, als er anfing, mit seinem Alter abzurechnen. Dieser Punkt im Leben, an dem einem klar wird, dass mehr kreative Jahre hinter als vor einem liegen. Bardo ergibt nicht immer Sinn, aber das gilt ja auch für das Leben. Vielleicht will Iñárritu dem Publikum sagen, dass er glücklich sterben könnte mit den Spuren, die er hinterlassen hat. Und damit hätte er wohl recht.
Während Daniel Giménez Cacho in einer beeindruckenden Wüstenlandschaft umherirrt, treffen wir Sam Rockwell im All im vielleicht besten Science-Fiction-Kammerspiel der Nullerjahre wieder. In Moon (MUBI) beginnt ein Astronaut geistig zu verfallen, als sein dreijähriger Solo-Aufenthalt auf einem Mondbergbau sich dem Ende nähert. Das Drama aus dem Jahr 2009 ist ein beseelter Rückblick auf eine technoskeptische, frühere Art von Science-Fiction, nicht nur hinsichtlich seiner Ästhetik, sondern auch wie es sich anfühlt und denkt. Wer mit Filmen wie Alien, Solaris oder Blade Runner vertraut ist, schätzt das Regiedebüt von Duncan „Zowie“ Jones, der sich, wie schon sein Vater David Bowie („Space Oddity”!), von Kubricks Weltraumoper 2001: A Space Odyssey inspirieren hat lassen. Jones verdrehte mit nur 5 Millionen Dollar Budget all die Genre-Konventionen und ließ Moon von Clint Mansell (Black Swan) mit treibender Musik untermalen.
Zur Gesamtwirkung trägt auch der beeindruckende Realismus des Films bei. Die Mondbasis, die Harvester und die Rover waren echte Modelle (keine CGI), gebaut von Bill Pearson (Alien), einem der Besten für Miniatureffekte in der Branche. Und dann ist da natürlich noch Sam Rockwell, der eine enorme Komplexität in die Rolle bringt. Er ist im Grunde die einzige menschliche Figur des Films (ein freundlicher Board-Computer äußert sich mit der Stimme von Kevin Spacey) und Rockwell trägt Moon mit Demut bis zum Schluss.
Zurück auf der Erde wird die nicht enden wollende Parade von TV-Dramen, die von wahren Verbrechen handeln, mit Under the Banner of Heaven (Disney+) fortgesetzt. Die Miniserie zeigt, wie eine Mischung aus großartigen Schauspielern, sorgfältigem Geschichtenerzählen und potenter Regie zu einem beeindruckenden Erlebnis führen kann, auch wenn Grund zur Annahme besteht, in diesem Jahr schon zu viel davon gesehen zu haben. (Zur Vertiefung des Phänomens empfiehlt sich dieser Aufsatz.)
Wie Jon Krakauers gleichnamige True-Crime-Bestseller-Vorlage (dt. Mord im Auftrag Gottes) verbindet der Siebenteiler zwei Geschichten aus zwei Jahrhunderten. Eine zeichnet die Tragödie von Brenda Lafferty (die wunderbare Daisy Edgar-Jones) nach, die in eine prominente Mormonenfamilie aus Utah eingeheiratet hatte und 1984 zusammen mit ihrer 15 Monate alten Tochter von religiösen Fanatikern ermordet wurde. Die andere Geschichte reicht bis zum Kirchengründer Joseph Smith in die 1820er Jahre zurück.
Für Under the Banner of Heaven hat Schöpfer Dustin Lance Black (Drehbuch-Oscar für Milk), selbst einst Mormone, eine dritte Geschichte erfunden, jene von Detective Jeb Pyre (Andrew Garfield in einer seiner besten Rollen), einem liebevollen, mormonischen Familienvater, der den Fall in den 1980er Jahren untersucht und darüber in eine Glaubenskrise schlittert. Ein ungläubiger Beamter (stiehlt allen die Show: Gil Birmingham) vom indigenen Stamm der Paiute wird ihm zugeteilt, eine Art griechischer Chor, während Regisseur David Mackenzie (Hell or High Water) eine unglaubliche Spannung in Szenen bringt, die an die besten Passagen von True Detective erinnern.
Der Distinktionsgewinn gegenüber anderen Mordserien unserer Tage ist die Beschäftigung mit grundsätzlichen Glaubensfragen. Das Whodunit ist in Mord im Auftrag Gottes zweitrangig gegenüber der Art und Weise, wie hier die Vergangenheit und die Krimihandlung um die beiden Ermittler genutzt werden, um relevante Fragen über den Aufstieg eines „von Gott gewollten“ Fundamentalismus in einer modernen Welt zu stellen. Einer Welt, in der Frauen ihren Vätern, Priestern und Ehemännern unterworfen sind und für die Sünde des Ungehorsams „blutsühnen“ müssen, weil sie Dinge wie Polygamie, Steuerhinterziehung und ihren Platz in der Welt in Frage stellen.