„I’m a Virgo“: Boots Rileys neue Serie ist eine gigantische Gesellschaftssatire und ein Sommerjuwel – flat bei Prime Video.
Vor knapp drei Jahren konnte man im Wiener Gartenbaukino in die absurde und antikapitalistische Welt des afroamerikanischen Künstlers Boots Riley eintauchen: Es lief seine von der Kritik gefeierte Satire Sorry to Bother You aus dem Jahr 2018. In dem herrlichen und herrlich eigenartigen Film nutzte der schwarze Held der Geschichte eine „weiße Stimme“, um die Karriereleiter hinaufzuklettern, und traf auf gierige Oberherren, bevor er in ein Pferd verwandelt wurde (hier unsere Kurzbesprechung).
Nun setzt Riley, ein selbsterklärter Kommunist, der sich zuerst als Rapper und Musikproduzent einen Namen machte, mit seiner neuen Amazon-Serie I’m a Virgo noch eins drauf. Produziert für einen der größten Streamer, treibt seine surrealistische Farce über Superhelden, Profitvermehrung und Medien die Konzepte der Unterwerfung der Schwarzen und des außer Kontrolle geratenen Kapitalismus auf die Spitze. Dabei schwankt I’m a Virgo magisch realistisch zwischen Satire und Drama hin und her.
Cootie (ein sehr lustiger und sympathischer Jharrel Jerome aus Moonlight und When They See Us) ist fast 20 Jahre alt und hat sein Zuhause noch nie verlassen. Er war ein riesiges Baby und wuchs und wuchs immer weiter, bis er fast vier Meter groß wurde. Aus Angst um ihn schirmten seine Tante und sein Onkel (ein genialer Mike Epps und Carmen Ejogo) ihn von der Welt ab. Daher hat Cootie kaum eine Vorstellung von der Außenwelt, abgesehen von einem Comic-Autor (Walton Goggins), der als „Superheld“ die Schwarzenviertel von Oakland in einem billigen Iron-Man-Anzug terrorisiert.
Als der gutherzige Cootie in die Welt hinausgeht, wird er prompt von einem schleimigen Manager angeheuert, der ihn für eine Streetwear-Modelinie als „gruseligen, schwarzen Mann“ in Szene setzt. Cootie trägt diese Outfits bis zum Ende der Season, obwohl sein Körper sie in Form eines sich verschlimmernden Ausschlags abstößt. Es bildet sich ein Kult von Menschen in schwarzen Rollkragenpullovern, die in Cootie ihren Messias sehen. Von der schwarzen Community wird er in ein Symbol der Befreiung verwandelt. Seine Reise zum Verständnis der amerikanischen Gesellschaft und seine Suche nach einem Platz darin ist dann auch das Rückgrat der sieben halbstündigen Folgen von I’m a Virgo.
Cootie hat keine Ahnung, wie ein Mann von seiner Statur, rein logistisch gesehen, mit einer normalgroßen Frau intim wird. Als er sich in Flora (eine strahlende Olivia Washington, Tochter von Denzel) verliebt, führt das zur wahrscheinlich peinlichsten und komischsten Sexszene aller Zeiten. Wie man sich vorstellen kann, brachte die Idee eines vier Meter großen Menschen überhaupt kreative Herausforderungen mit sich, die hier mit erzwungener Perspektive, Miniaturpuppen und CGI bewältigt werden.
Boots Riley ist wütend – verständlicherweise. Er ist wütend über die Kriminalisierung von Armen und Schwarzen. Er ist wütend auf eine Gesellschaft, die Menschen auf der Straße verrecken lässt, weil sie keine Krankenversicherung haben. Er ist wütend auf Medienmoloche und er ist wütend auf die Populärkultur und ihre Komplizenschaft im großen Ganzen. Natürlich besteht eine gewisse Ironie darin, dass der große Richter der Kapitalismusmaschine seine Serie ausgerechnet für eines der größten Unternehmen der Welt produziert hat (quasi Systemkritik aus dem System heraus), aber er hält sich keineswegs zurück mit Kritik und lässt coole Monologe über die Coolness des Kommunismus halten. Je mehr Menschen seinen überbordenden Sprudel an Fantasie sehen, desto besser.
Boots Riley hat sich als einer der interessantesten US-Regisseure der vergangenen Jahre erwiesen und I’m a Virgo ist die mutige Fortsetzung eines genialen Films, den man gegen moderates Entgelt bei Prime Video ausleihen kann.