Wer Visionen hat

Vielschichtig: „Mittagsstunde“ von Lars Jessen – im Kino

Jessen, Mittagsstunde
Mittagsstunde, 2022, Lars Jessen

„Mittagsstunde“: Lars Jessen hat den Erfolgsroman von Dörte Hansen für die Leinwand adaptiert. Und wie!

Als seine Alten ins hohe Alter kommen, nimmt sich Ingwer Feddersen, 47 Jahre alt und Dozent der Geografie an der Universität Kiel, ein Sabbatical, verlässt die Dreierbeziehung in der schicken Villa, in der er lebt, und kehrt heim nach Brinkebüll in Nordfriesland, um sich zu kümmern.

Vadder, geistig rege, freut sich auf die Gnadenhochzeit mit seiner Ella und ist mit der Hilfe des Rollators noch einigermaßen mobil; zumindest schafft er es jeden Tag nach unten in die Gaststube des gar nicht mal so kleinen Landgasthofes, den er Zeit seines Lebens führte, wie vor ihm bereits sein Vadder, und vor dem wiederum dessen Vadder. Den dann aber Sohn Ingwer – der, wie sich noch herausstellen wird, eigentlich der Enkel ist – nicht übernahm, weil er zum Studieren in die große Stadt wollte. Studieren!? Hat man sowas schon gehört?! Ob dieses Aus-der-Art-Schlagen wohl etwas mit der lang schon verschwundenen Marret zu tun hat, die Ingwer eine ganze Weile für seine Schwester hielt? Und/Oder mit dem längst verstorbenen Erdkundelehrer, vor dessen Häuschen die Mudder des öfteren in der Mittagssonne sitzt? Mudder, die inzwischen derart schwer dement ist, dass sie kaum mehr spricht, dafür aber den Vadder haut, wenn er ihr zu nahe kommt, denn wenn man alt und dement ist, muss man sich nicht mehr darum bemühen, den Schein zu wahren, dann gibt es nur noch das Sein.

Mittagsstunde
Hildegard Schmahl, Charly Hübner in Mittagsstunde

Das ist nur ein Bruchteil dessen, was in Mittagsstunde, Lars Jessens tiefenentspannter Verfilmung des 2018 erschienenen Erfolgsromans von Dörte Hansen, erzählt wird (oberflächliche Parallelen zum in der Vorwoche angelaufenen Alle reden übers Wetter lassen sich übrigens hier überprüfen). Die Geschichte spielt hoch oben im Norden Deutschlands, im Nordwesten von Schleswig-Holstein um genau zu sein, wo die Leute berüchtigt wortkarg sind und nicht dafür bekannt, das Herz auf der Zunge zu tragen. Womit einmal mehr bewiesen wäre, dass es nicht viele Worte braucht, um einen Reichtum an Gefühlen und Bezügen darzustellen; jedenfalls nicht im Film und erst recht nicht, wenn die geeigneten Schauspiel- und sonstigen Fachkräfte dabei mithelfen, eine Vision umzusetzen.

Vision? Ist das nicht etwas hochgegriffen? Was hat eine Familiengeschichte auf einem Landgasthof im Nirgendwo mit einer Vision zu tun? Eben. Eine ganze Menge. Insofern diese nämlich lediglich den Nukleus bildet einer weit ausgreifenden Erzählung über den Landstrich, die Region, die historische Bundesrepublik. Auf den drei Zeitebenen 1965, 1976 und 2012 angesiedelt, die einander in einem beständigen Hin und Her wechselseitig kommentieren, handelt Mittagsstunde mithin auch – und hier seien die Begriffe „Flurbereinigung“, „Strukturwandel“ und „Landflucht“ ins eh schon weite Feld respektive aufs platte Land geworfen – von gesamtgesellschaftlichen Veränderungen: der Verödung kleiner Orte aufgrund fehlender Infrastruktur (keine Läden, keine Ärzte, keine Schulen) und damit einhergehender Überalterung; der Ausbreitung der industriellen Landwirtschaft auf Kosten der kleinen Bauernhöfe; das Fällen der Dorfeiche, weil die dem Straßenausbau im Weg steht.

All dies bezeugt, mehr oder weniger stoisch Haltung bewahrend, Ingwer (mit Charly Hübner idealbesetzt), als er zuhause nach dem Rechten sieht und feststellen muss, dass so einiges im Argen liegt. Denn er erinnert sich, und wir sehen woran, und wir sehen auch, wie aus einem lebendigen, mit Fröhlichkeit und Unternehmungsgeist erfüllten Dorf eine Ansammlung von unter der Woche leerstehenden Häusern entlang einer Straße wird, über die die Lastwagen brettern. Und klar wird, dass sich hier ein großer kultureller Verlust vollzogen hat, weil mit dem sogenannten Fortschritt zugleich ein ganzes soziales Gefüge fort schritt.

In diesem Zusammenhang ist es denn keineswegs trivial, dass Mittagsstunde in unterschiedlichen Sprachfassungen in die Kinos kommt, immerhin wird in Nordfriesland mancherorts noch Plattdüütsch gesprochen. Die Geschichte um die Feddersens in Brinkebüll kann man sich also hochdeutsch synchronisiert oder auf Platt mit Untertiteln erzählen lassen. Da ja, wie gesagt, dort oben nicht so wahnsinnig viel geredet wird, hält sich der Leseaufwand in Grenzen – und in der Muttersprache lebt nun mal auch die ganz besondere und ganz besonders angenehme Wärme der Heimat.

 

Mittagsstunde
Deutschland 2022, Regie Lars Jessen
Drehbuch Catharina Junk, basierend auf dem Roman von Dörte Hansen
Mit Charly Hübner, Hildegard Schmahl, Peter Franke, Lennard Conrad, Rainer Bock, Gabriela Maria Schmeide, Julika Jenkins
Laufzeit 93 Minuten