Frau Professorin Schlaufuchs

„Alle reden übers Wetter“ von Annika Pinske – im Kino

Pinske, Alle reden übers Wetter
Alle reden übers Wetter, 2022, Annika Pinske

Hier wird beobachtet, wie Marx sich aus dem Staub macht: „Alle reden übers Wetter“ von Annika Pinske – jetzt in österreichischen und deutschen Kinos.

„Ossi!“, sagt der Mann, der im Bett liegt, zu der Frau, die im Bad des Hotelzimmers die Shampoo- und Duschgel-Minis in die Handtasche packt. Ein Wort – und schon tut sich ein ganzes Feld von Vorurteilen und Ahnungslosigkeit und verzerrter Wahrnehmung auf. Gleich zu Beginn von Annika Pinskes Alle reden übers Wetter wird en passant deutlich, dass zwar über dreißig Jahre seit dem Fall der Mauer und der Wiedervereinigung der beiden Deutschländer vergangen sein mögen, dass die sprichwörtliche „Mauer in den Köpfen“ aber nach wie vor vorhanden ist. Und zwar sogar in den Köpfen derjenigen, die zur fraglichen, ereignisreichen Zeit noch Kinder, maximal Teenager waren. Die Frau lässt sich nicht irritieren respektive lässt sie sich nichts anmerken, die unterkühlte Art allerdings, mit der sie den Mann im Bett abfertigt, der ihr dann auch noch mit seinen Gefühlen auf die Pelle zu rücken beginnt, legt weniger eine toughe Emanze nahe als vielmehr langjähriges Training im Überspielen von Verunsicherung: weil sie sich das schon so oft anhören musste, weil sie immer wieder darauf festgelegt wird, weil sie nach wie vor nicht dazu gehört, weil da eben nun mal diese Kluft ist.

Der Typ im Bett übrigens ist nicht nur ein Wessi, sondern obendrein noch Claras Student. Clara nämlich dissertiert an einer der Berliner Universitäten in Philosophie; mit einer Arbeit über den Begriff der Freiheit bei Hegel, um genau zu sein. Sie ist eine der vielen schlecht bezahlten wissenschaftlichen Mitarbeiter:innen und verfügt noch nicht einmal über einen eigenen Schreibtisch. Doch bei ihrer Doktormutter, die sich derart hart hat durchkämpfen müssen, dass sie darüber zynisch und rücksichtslos geworden ist, findet sie immerhin Ermutigung; wenngleich die dann eher unter dem Motto „Heul nicht rum, reiß dich zusammen und mach weiter!“ steht.

Pinske, Alle reden übers Wetter

Dass Claras Befangenheit auf dem Westberliner akademischen Parkett nicht allein mit ihrer ostdeutschen Sozialisation zu tun hat, wird deutlich, als sie zur Feier des sechzigsten Geburtstages ihrer Mutter aus dem großmäuligen Berlin zurückkehrt ins kleinbürgerliche Heimatkaff in Mecklenburg-Vorpommern. Multikulturelle WG, Patchwork-Familie und intellektueller Diskurs wechseln mit Plattenbausiedlung, Prekariat und dem Pragmatismus der alleinerziehenden Mutter; jede kennt jeden und alle wissen übereinander Bescheid. Doch auch in der Ost-Provinz herrschen die liebevoll gepflegten Anti-West-Ressentiments der abgewickelten DDR gleichermaßen unverdrossen und hartnäckig und gesellen sich zu den regional motivierten Vorbehalten noch die Klassenvorurteile; so als habe die DDR-Proletarierin Clara, die in den Westen wechselte, um dort zu studieren – und deren Heranwachsen zu Wendezeiten, dies wird mehrfach angedeutet, die zeittypischen Turbulenzen einschloss –, gleich doppelten Verrat begangen.

Mit leicht spöttischem Unterton spricht man Clara als „Frau Professorin“ an, und wenn dann genug Schnaps geflossen ist, wird sie despektierlich „Schlaufuchs“ tituliert. Doch nicht nur das stimmt die Philosophin melancholisch. Es ist vor allem der Verlust einer gemeinsamen Sprache, mit dem die Entfremdung von der Mutter einhergeht, der ins Gewicht fällt, will man die Gemütslage der Hauptfigur verstehen. Typischer Dialog: Mutter: „Na, wie läuft’s inner Uni?“, Antwort Clara: „Gut.“ Die Philosophie Hegels ist halt nun mal kein Thema für einen Kaffeeklatsch, so angebracht das wahrscheinlich sogar wäre. Denn Clara arbeitet ja, und das ist entscheidend, an der geisteswissenschaftlichen Durchdringung des historischen Ereignisses „Wende“; umso tragischer wirkt da das Desinteresse, das ihr von den Subjekten der Geschichte, also jenen, die im Zentrum ihrer Überlegungen stehen, entgegengebracht wird.

Und so gelingt Pinske und ihrem hervorragenden Ensemble mit Alle reden übers Wetter nicht nur eine detailgenaue Kartografierung bundesrepublikanischer Gegenwarts-Befindlichkeit, ganz ohne narzisstische Nabelbeschau oder beleidigte Schuldzuweisung. Erfasst wird darüber hinaus auf ganz grundsätzliche Weise das Verhältnis zwischen Ereignis und Analyse, zwischen Tat und Gedanke. Marx hat Hegel vom Kopf auf die Füße gestellt, hier wird beobachtet, wie er sich aus dem Staub macht.

 

Alle reden übers Wetter
Deutschland 2022, Regie Annika Pinske
Mit Anne Schäfer, Judith Hofmann, Marcel Kohler
Laufzeit 89 Minuten