Disco Boy

Gegen die Klischees des Kriegsfilms – im Kino

Disco Boy, Abbruzzese, Rogowski
Disco Boy, 2023, Giacomo Abbruzzese

„Disco Boy“: eine Explosion in der Dunkelheit, von Giacomo Abbruzzese, mit Franz Rogowski

Die französische Fremdenlegion gibt jedem eine zweite Chance, so heißt es. Aleksei ist mit seinem Kumpel Mikhail unterwegs, um sie wahrzunehmen. Aufgebrochen sind sie in Weißrussland, an der polnisch-deutschen Grenze verliert Aleksei Mikhail an die Oder. Endlich landet er in Paris. Eine weite Reise, die filmisch in großen Sprüngen vollzogen wird.

Aleksei absolviert die Grundausbildung, wird aufgenommen in den Bund der harten Männer ohne Vergangenheit. Dann verschlägt es ihn mit seiner Einheit ins Nigerdelta, wo im Rahmen einer Geheimoperation, die im Grunde freilich eine illegale ist, von einer Rebellenorganisation genommene Geiseln befreit werden sollen. Doch kämpfen diese Aufständischen gegen Ausländer, die Erdölfelder ausbeuten und damit den Lebensraum der einheimischen Bevölkerung zerstören – und Aleksei muss feststellen, dass er auf der falschen Seite gelandet ist: auf der des Unterdrückers der Armen und Schwachen, auf der, vor der er ursprünglich einmal geflohen ist; zu allem Übel hat er sich bereits schuldig gemacht.

Das liest sich zwar um einiges stringenter als es auf der Leinwand aussieht, hilft aber weiter, wenn man sich am Ende von Giacomo Abbruzzeses konventionsbefreitem Spielfilmdebüt Disco Boy fragt, welch wundersames Wesen einen da wohl gerade getreten haben mag. Also nochmal anders und um Abbruzzeses opaker Narration etwas gerechter zu werden: Unterwegs im Deltadschungel trifft Aleksei, der Soldat, auf Jomo, den Rebellenführer, an dem auffällt, dass er verschiedenfarbige Augen hat; später in Paris trifft Aleksei auf Udoka, Jomos Schwester, die gleichfalls verschiedenfarbige Augen aufweist; am Ende wird Aleksei, der von Jomo die Aufgabe übernommen hat, mit Udoka den rituellen Tanz zu tanzen, ebenfalls verschiedenfarbige Augen haben. Denn das, was dieser so eigenwillige faszinierende Film erzählt, ist auch eine Gespenstergeschichte, und eine der Versöhnung. Es ist eine Geschichte mit politischer Dimension, die sich ins Mystisch-Magische ausstreckt und dort Sinn wie Erfüllung findet.

Nicht zuletzt wendet sich Abbruzzese, der mit Disco Boy sein eigenes Drehbuch in Szene setzt, gegen die Klischees des Kriegsfilm-Genres: „In this film, telling the story of both sides is a political as well as a narrative and staging issue. I want to show the horror of war by giving the same emotional dignity to both camps.I wanted to move away from the stereotypes of virility and violence that characterize many war films. I like the idea that physical strength might be accompanied by a certain fragility and a tormented gaze. It’s this contrast that interests me.“

Aleksei wird gespielt von Franz Rogowski. Wie wir wissen, braucht der nicht viele Worte, um eine Menge auszudrücken, was sich ohnedies nicht immer in Worte fassen lässt. Rogowski hält den Film in seinem Innersten zusammen, er bildet das energetische Zentrum, an das sich eine zwischen Dröhnen, Wabern und Krachen oszillierende Soundscape des französischen Elektromusikmeisters Vitalic anlagert. Zumeist schälen sich die Konturen aus der Dunkelheit und aus den Schatten, zwischendurch aber blickt die von der renommierten Hélène Louvart geführte Kamera durchs Nachtsichtgerät, unternehmen die solcherart entstehenden Wärmebilder einen Ausflug ins berauschend Experimentelle, droht die ganze Chose in einer Art Feuerwerksexplosion auseinanderzufliegen. Dann, als wäre der Film ein Körper, der Atem holt, holen Großaufnahmen von Gesichtern und Augen alles wieder zusammen, verdichtet sich das betörend lose geflochtene, narrative Gespinst erneut. In seiner Dramaturgie erinnert Disco Boy an die pumpenden (Fort-)Bewegungen einer Hydromeduse, vulgo: Qualle, die fragil und befremdlich durch geheimnisvolles Terrain schwebt – ein Bild von magnetischer Anziehungskraft und nicht ungefährlich.

Uraufgeführt wurde Disco Boy im vergangenen Jahr im Rahmen des Wettbewerbs der Berlinale, wo Kamerafrau Hélène Louvart den Silbernen Bären für eine Herausragende Künstlerische Leistung erhielt; in diesem Jahr nun wurde Vitalic mit einem Prix Lumière für den Besten Score ausgezeichnet.

 

Disco Boy
FR/IT 2023, Regie Giacomo Abbruzzese
Mit Franz Rogowski, Morr Ndiaye, Laetitia Ky
Laufzeit 92 Minuten