Paul Schrader arbeitet weiter an seiner Großerzählung des einsamen, zerquälten Mannes. Den Titel-Antihelden des sehenswerten Kapitels „The Card Counter“ gibt Oscar Isaac.
In ihrem Inneren sind Spielcasinos oftmals dergestalt angelegt, dass, wer einmal eingetreten ist, nur schwer wieder herausfindet. Der Ort, an dem gespielt wird, ernsthaft gespielt wird, ist keiner, an dem die Wirklichkeit mit all ihren sehr viel komplexer als win-lose schattierten Sachverhalten gerne gesehen ist. Sie brächte womöglich Bedenken mit – beispielsweise jenes, ob man sich den nächsten Einsatz leisten kann? – oder eben einfach nur die ganze trübe Unübersichtlichkeit der menschlichen Existenz. In einem Spielcasino ist hingegen alles klar: Die Spiele haben Regeln und sie enden mit Gewinn oder Verlust; Plusminusnull ist selten.
Auch das Leben in einem Gefängnis ist übersichtlich, es ist bestimmt von Routine; einer Routine, deren Einzelelemente jene staatliche Macht festgelegt hat, die vermittels des Gefängnisses Regelverstöße sanktioniert. Aufschluss, Einschluss, Umschluss, Hofgang, Essenfassen, Duschen – um nichts mehr brauchen die Häftlinge sich zu kümmern. Die Gedanken sind frei, um das zu kreisen, was einen an diesen Ort, in die Zelle, gebracht hat.
Es gibt freilich noch ganz andere Gefängnisse, nennen wir sie behelfshalber schmutzige Gefängnisse; ein Beispiel: das Foltergefängnis Abu Ghraib, das während der Besetzung des Irak durch die USA etwa ab April 2004 zum Gegenstand eines weitreichenden Skandals wurde.
Und auch ein äußerlich freier Mensch kann innerlich in einer Gefängniszelle sitzen. Wenn er beispielsweise Schuld auf sich geladen hat und der Gewissenswurm ihn plagt.
So einer ist William Tell, der The Card Counter von Paul Schrader den Titel gibt. Tell hieß früher Tillich und hat als Handlanger von Gordo, dem Ober-Folterer von Abu Ghraib, schwere Schuld auf sich geladen. Für diese Untaten findet Schrader einen eindrücklichen visuellen Stil: durch die Fischaugenlinse gefilmt werden Körper und Raum verzerrt und zugleich zur Kenntlichkeit entstellt in jenes Monströse, das Abu Ghraib war und Enhancend interrogation techniques sind. Als einer jener, die so dumm waren, sich dabei fotografieren zu lassen, hat Tillich eine langjährige Haftstrafe verbüßt, doch geholfen hat das nichts (zumal all die Gordos, unnötig zu sagen, ungeschoren davon kamen).
Nunmehr reist Tell (Oscar Isaac) von Casino zu Casino und zählt Karten, um seine Gewinnchancen beim Blackjack zu erhöhen. Er versucht unter dem Radar zu bleiben und kommt über die Runden. Er ist immer akkurat gekleidet in verschiedenen Schattierungen von Grau und kein Härchen auf seinem Kopf würde es jemals wagen, die Ordnung zu stören. Doch hinter der immer und unter allen Umständen gefassten Fassade tobt weiterhin der Krieg. Und das Uneigentliche der Casino-Welt korrespondiert dem moralischen Aus-der-Welt-Gefallensein der Hauptfigur. Motelzimmer, Highways – transitive Räume; in dem einen bleibt man nicht lange, den anderen befährt man, um von A nach B zu gelangen, wo dann wieder ein Motelzimmer wartet. Und ein Spielcasino. Oder eine Gefängniszelle. Das Pokerface ist einem mittlerweile im Gesicht angewachsen. Bloß nichts anmerken lassen; wer sich etwas anmerken lässt, hat schon verloren.
Dann aber versucht Tell/Tillich, sich zu entsühnen, indem er auf einen jungen Mann setzt, den Sohn eines vormaligen Kollegen, haltlos geworden aufgrund der Taten des Vaters. Wenn er, Tell, es hinbekäme, dass dieser Junge wieder Fuß im Leben fasst … möglicherweise würde ihn die gute Tat entschulden … ergäbe einen Ausgleich auf jener Waage, auf der dereinst alles gewogen werden wird.
Nur macht William seine gewagte Rechnung ohne die in den USA stark verwurzelte Gewalt-Tradition (das Rache-Narrativ), und er vergisst Einsteins Hinweis, dass Gott nicht würfelt. Die Karten, in die sich hier keiner schauen lassen will, sie sind im Volksmund auch bekannt als „des Teufels Gebetbuch“. Also kann, auch wer lieber Erbsen als Karten zählt, ungefähr erahnen, wie das ausgeht.
Es gibt in The Card Counter, dieser von Paul Schrader mit analytischer Nüchternheit inszenierten Untersuchung der Möglichkeiten von Schuld und Sühne, einen mit Aplomb und Entourage auftretenden Poker-Spieler namens Mr. USA (Alexander Babara), der unermüdlich seine eigene Großartigkeit feiert, während alle anderen sich fremdschämen. Mr. USA ist keine Nebenfigur, er ist das Symbol für ein Land, das den Anstand verloren hat.
The Card Counter
USA/UK 2021, Regie & Drehbuch Paul Schrader
Mit Oscar Isaac, Tye Sheridan, Tiffany Haddish, Willem Dafoe, Alexander Babara
Laufzeit 111 Minuten