Auf sich selbst blicken

Wundervoll: „Der schlimmste Mensch der Welt“ von Joachim Trier – im Kino

renate reinsve, verdens verste menneske
Der schlimmste Mensch der Welt, 2021, Joachim Trier

Renate Reinsve brilliert als Zweiflerin in „Der schlimmste Mensch der Welt“ von Joachim Trier und Eskil Vogt. Die Sehnsucht der Figuren überträgt sich umstandslos auf das Publikum.

Der Titel führt pfeilgrad in die Irre. Die Titelheldin Julie (Renate Reinsve, Silberne Palme in Cannes, wo die Goldene eigentlich angesagt gewesen wäre) des sehr wundervollen Films Der schlimmste Mensch der Welt / Verdens verste menneske ist eben das nicht, sondern so wie wir alle halt sind, wenn man ehrlich ist. Unstet, am Zweifeln, falsche Entscheidungen treffend, richtige Entscheidungen treffend, und vor allem gar keine Entscheidungen treffend. Begehren, Trauer, die großen Fragen, Kinder ja, Kinder nein, lieb ich ihn, verpasse ich was, werde ich mein Leben ganz gelebt haben. Alles das erzählt das Skript von Regisseur Joachim Trier und Eskil Vogt (der an den meisten Filmen Triers mitgeschrieben und mit seinem Regiedebüt The Innocents einen der besten Horrorfilme der letzten Jahre gedreht hat) in 13 Kapiteln plus Prolog und Epilog.

Julie und ihr Freund Aksel (Anders Danielsen Lie) sind zu Besuch im Landhaus von Aksels Freunden, die alle im Kleinfamilienformat auftreten. Er, Comic-Zeichner, ist zehn Jahre älter als sie; sie, Studentin der (nacheinander) Medizin, Psychologie und Fotografie, weiß auch mit 30 noch nicht, wohin die Reise gehen soll. Schwierig halt, sich festzulegen. Unter dem Eindruck des Familientreibens der Freunde – schreiende Kinder, schreiende Eheleute – spitzt der zwischen Julie und Aleks ansonsten eher schwelende Konflikt sich zu, der entsteht, wenn zwei Menschen einander lieben, die, wie man so sagt, gerade in unterschiedlichen Lebensphasen stecken. Er will Kinder und Verbindlichkeit, sie nicht oder weiß es halt noch nicht. Man könnte so ein an sich erst mal nicht originelles Beziehungsgespräch nachts in der Ferienhauskammer in geradezu stählerner Banalität versacken lassen.

reinsve, lie in: der schlimmste mensch der welt
Renate Reinsve, Anders Danielsen Lie

Dass in Der schlimmste Mensch der Welt jedes Wort, jede Geste milimetergenau sitzt und so gleichermaßen analytisch wie auch auf einer identifikatorischen und empathischen Ebene funktioniert, liegt zum einen an den Schauspieler:innen, die bis in die Nebenrollen ideal zusammengecastet worden sind. Und am Skript von Trier und Vogt, das in der anteilnehmend-beobachtenden Perspektive der Kamera zur Entfaltung kommt: Man bekommt vorgeführt, als quasi detektivische Seelenarbeit, die die Figuren selbst leisten, wie zwei Menschen versuchen einander zu lieben und daran scheitern. Und diese Vorführung zerlegt diese Liebe analytisch und berührt doch so sehr, dass man gar nicht anders kann, als sie intuitiv abzugleichen mit der eigenen Erfahrung, den eigenen Geschichten.

Auch für Verliebtheit, die vielleicht zur Liebe wird, findet Der schlimmste Mensch der Welt wundervolle Bilder. Julie ist diffus unzufrieden; ob mit sich, ihrem Leben oder in ihrer Beziehung verrät der Film nicht, und wie soll man das auch trennen, wo schließlich alles miteinander zusammenhängt. Auf einer Party lernt sie Eivind, eine Seele von Mensch, gespielt von Herbert Nordrum, kennen. Julie und Eivind kreiseln betrunken umeinander, und was in jedem vergleichsweise dummen Film auf eine für den Plot halt nötige Grenzüberschreitung hinausgelaufen wäre (Julie „betrügt“ Aksel), wird hier dazu verwendet, um zu zeigen, wie zwischen zwei Menschen in kurzer Zeit eine eigene Welt entsteht, mit eigenen Ritualen und eine Nähe und ein Begehren, die mit dem Wort „Affäre“ überhaupt nicht eingefangen werden. Das ist sehr klarsichtig und herzerweichend zugleich. Und wieder: Man gleicht das Geschehen mit den eigenen Erlebnissen ab. Der schlimmste Mensch der Welt ist einer der Filme, in denen sich die Sehnsucht der Figuren auf Zuschauerin und Zuschauer überträgt.

Im letzten Viertel des Films, wenn der an Krebs erkrankte Aksel stirbt, durchdringen sich das Individuelle, Besondere und das Allgemeine noch einmal auf eine andere Weise. Bis dahin laufen allerlei Diskurse – Feminismus, Männlichkeit, Mutterschaft – unauffällig, aber prägnant mit. In der Figur von Aksel wird dann ein Konflikt zwischen Alt und Jung spürbar, der Der schlimmste Mensch der Welt zu einem stimmigen Generationenporträt werden lässt. Der letzte Monolog des Sterbenden beschwört und verabschiedet eine ganze Kulturtechnik, das Sammeln und Leben mit Comics, Vinyl und Büchern und damit eine Art, Zeichen zu organisieren und also auch eine Lebensweise. Die Szene, in der Julie und Aksel das Haus besuchen, in dem Aksel als Kind gelebt hat, gehört zu den traurigsten und schönsten Filmmomenten, die ich in den letzten sagen wir zwanzig Jahren gesehen habe. Das sind so Bilder und Sätze, die man da hört und sieht, die auch wahre, aber verbrauchte Zitate wieder mit Leben füllen; zum Beispiel das von Ernst Bloch, Heimat sei etwas, „das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war“.

Das Individuelle und das Allgemeine: Anhand von drei Menschen (und vielen nur angetippten, aber nicht minder präzis gezeichneten Nebenrollen) zeigt Der schlimmste Mensch der Welt, was es bedeutet herauszufinden, wer man ist; das, zumindest das wissen alle Figuren hier offenbar, man herausfinden muss, wer man sein möchte. Dann das nächste Problem, wie bekommt man das realisiert, mit der Vergangenheit im Nacken und der Zukunft vor sich, die viel zu offen und eng zugleich ist. Das erzählt dieser Films so, dass man ihm sofort glaubt. Diesen Bildern gelingt es, dafür zu sorgen, dass man mit ihnen auf sich selbst blickt und sich durch die Figuren hindurch sieht.

 

Der schlimmste Mensch der Welt
Norwegen/Frankreich/Schweden/Dänemark 2021, Regie Joachim Trier
Mit Renate Reinsve, Anders Danielsen Lie, Herbert Nordrum
Laufzeit 121 Minuten