Wölfe mit Pelzen

Streaming-Tipps KW 47

Fields, Weisberg, The Patient
The Patient, 2022, Joel Fields, Joseph Weisberg

„A Friend of the Family“: Ein Freund, der ein Pädophiler ist (bei Sky). Und ein Patient, der sich als Serienmörder entpuppt (bei Disney+).

Die Geschichte von Jan Broberg und ihrer Familie dürfte hierzulande kaum jemandem bekannt sein, aber in den USA gibt es ein Buch, einen Podcast und einen Netflix-Dokumentarfilm aus dem Jahr 2017 mit dem Titel Abducted in Plain Sight. Die Doku wurde von vielen kritisiert: zu kitschig, zu reißerisch, zu manipulativ. Nun gibt es mit A Friend of the Family (ab heute bei Sky) eine neunteilige Fiktionalisierung. Mit Regisseurin Eliza Hittman (Never Rarely Sometimes Always), die in der ersten Folge einen bewundernswert zurückhaltenden Ton anschlägt, hat Nick Antosca das Ganze sensibel dramatisiert. Zu behaupten, A Friend of the Family ist eine bizarre Geschichte, wäre eine Untertreibung. Die Geschichte hat so viele WTF-Momente, dass jeder, der sich auf diese Miniserie einlässt, nach der ersten Folge in einem Google-Kaninchenloch verschwinden wird.

Es ist schwer, diese Geschichte zusammenzufassen – weil sie einfach keinen Sinn ergibt, wenn man die Serie nicht gesehen hat. In den 1970ern hat der pädophile Bob Berchtold (Jake Lacy) die zwölfjährige Tochter (zuerst gespielt von Hendrix Yancey und später von McKenna Grace) eines befreundeten frommen Mormonen-Ehepaars (Anna Paquin und Colin Hanks) entführt. Er hat das nicht nur einmal getan, sondern zweimal, weil er die Eltern um den Finger wickelte. Beim ersten Mal kidnappte er das Mädchen namens Jan, fuhr mit ihr nach Mexiko, setzte sie unter Drogen und überzeugte sie davon, dass sie beide Außerirdische sind, deren Mission es ist, ihren Heimatplaneten durch Fortpflanzung zu retten. Bob Berchtold begann dann eine Affäre mit der Mutter, nur um die Tochter wieder zu entführen. Die Details und der Rest werden am besten selbst erlebt.

Das Ensemble ist großartig, aber der Erfolg der Serie ist wohl Jake Lacy zu verdanken. Im Gegensatz zu seinem großartigen Idioten in The White Lotus ist der Schauspieler hier in der Lage, die ultimative Schurkerei nur durch ein breites Lächeln zu verkörpern. Jan und Mary Ann Broberg sind auch die Produzenten der Serie, wobei Jan die erste Episode in einem Vorspann einleitet und uns daran erinnert, dass, so unglaublich die Handlung auch sein mag, alles wirklich passiert ist. Es ist ihre Art und Weise, ihre Eltern in Schutz zu nehmen, zwei Menschen, die die schlimmsten Entscheidungen getroffen haben, die man sich vorstellen kann. Antosca ist allerdings in der Lage (er hat Ähnliches mit The Act und Candy gemacht), ein vollständiges Porträt dieser Familie zu zeichnen – und das Menschliche im Absurden zu finden.

Nicht nur wahre Verbrechen können uns in Angst versetzen. Die Schöpfer Joel Fields und Joe Weisberg, die uns das Meisterwerk The Americans geschenkt haben, sind vier Jahre nach dem Ende ihrer Spionagedrama-Serie mit einem Zehnteiler zurückgekehrt, der nicht minder vielschichtig ist. Mit dem Psychothriller The Patient (ab Mittwoch bei Disney+) nämlich, der auf der Beziehung zwischen einem Psychotherapeuten und seinem Patienten auf der Couch aufbaut.

Steve Carell spielt einen Mann, der scheinbar in einem Albtraum gefangen ist und in einem dunklen Raum an den Boden gekettet ist. Wir erfahren bald, dass er der Therapeut Alan Strauss ist, der von seinem introvertierten Patienten Sam Fortner entführt wurde. Sam (Domhnall Gleeson) hat sozusagen entschieden, dass seine Sitzungen etwas inniger sein sollen. Er will, dass Alan ihn von seinem unkontrollierbaren Wunsch heilt, Menschen zu töten. Aber wie einer seiner ehemaligen Lehrer ihm in einer späteren Folge vermutlich sehr richtig erzählt, ist das Zusammenleben mit einem Therapeuten eine schreckliche Idee.

Es klingt wie eine schwarze Komödie und das ist The Patient zum Teil auch – bis die Serie völlig unerwartet in ziemlich tiefe Gedanken über Schuld und Sühne, jüdische Identität und Gerechtigkeit abtaucht. Alan bringt sein eigenes Gepäck in die Therapiesitzungen mit und seine Probleme spielen eine ebenso große Rolle wie die von Sam. Nicht nur deshalb allerdings hebt sich das Ganze vom typischen Serienkiller-Drama ab. In fast jeder Hinsicht macht The Patient auch das Gegenteil von dem, was seine Blockbuster-Fernsehkollegen versuchen. Während die anderen groß werden und sich aufblähen, bleiben Fields und Weisberg klein und intim. Die Episoden sind nur etwa eine halbe Stunde lang, es bleibt ein Kammerspiel zwischen zwei fabelhaften Schauspielern, die beide sowohl dramatischere, als auch zynisch-komische Rollen stemmen können. Die Geschichte löst sich langsam auf, genau wie eine Therapie, und sie entschädigt den geduldigen Betrachter, auch wenn es keine Garantie dafür gibt, dass der Patient am Ende geheilt wird.