„Marriage“: Stefan Golaszewskis vierteiliges Porträt einer Ehe ist ein glorreiches Stück echtes Leben – auf Canal+
Alles beginnt auf einem Flughafen in Spanien mit einem siedenden Streit um eine abwesende Kartoffel. Doch es geht natürlich um etwas anderes. Ian und Emma warten auf ihren Heimflug nach England und er ist mürrisch, weil sie ihm den falschen Snack gekauft hat. Der Streit eskaliert urkomisch im Flieger, eine Kakophonie von Stimmen aus dem Off wird immer lauter, da streckt Ian die Hand über den Gang aus, um nach Emmas Hand zu greifen – er hat Angst vorm Fliegen. Und sie nimmt sie. Der Titel wird eingeblendet, schnörkelloser und akkurater könnte er nicht sein: MARRIAGE.
Stefan Golaszewskis Porträt einer Ehe auf Canal+ ist nicht für jede:n. Der Vierteiler ist nicht unromantisch, aber komplett unsentimental in seiner Romantik. Viele Szenen sind wortlos, gewöhnlich, trostlos, aber auch zärtlich. Mit dem Effekt, dass man sich nicht selten unangenehm berührt fühlt, weil so viel Wahres darin steckt.
Wir sehen Ian und Emma dabei zu, wie sie den Geschirrspüler einräumen, den Tisch abdecken, wie sie einander still, ganz lange umarmen. Ihr Zuhause, ja sogar der Himmel ist eintönig. Aber in vielerlei Hinsicht ist Marriage auch ein schlaues Spiel der Täuschung. Hinter der alltäglichen Langeweile, die Golaszewski in gemächlichen und langatmigen Kameraeinstellungen ausführt, lauern sehr fein kalibrierte, unfreiwillig komische und schmerzliche Minidramen. Wie bei seinen vorherigen Serien Him and Her (2010–2013) oder Mum (2016–2019) versteht der preisgekrönte britische Autor, dass menschliche Größe sich in winzigen Momenten verstecken kann.
Sean Bean und Nicola Walker spielen ein Paar, das seit siebenundzwanzig Jahren verheiratet ist (und sie spielen es wunderbar). Sie lieben einander, aber die jüngsten Ereignisse stellen eine Herausforderung für sie dar. Der gutmütige Ian wurde entlassen und hat kürzlich seine Mutter verloren. Jetzt gießt er die Rhododendren und lauert vor lauter Einsamkeit einer Angestellten im Fitnessstudio auf. Dem gestandenen Sean Bean dabei zuzusehen, wie er im Geschäft nach einem „revitalisierenden“ Duschgel sucht, in der Hoffnung, dass es ihm einen „Boost“ gibt, lässt einen gleichzeitig lachen und weinen.
Die stoische Emma ihrerseits spürt den Druck als Haupternährerin und ist erschöpft von der Sorge um ihren alternden Vater. Bei der Arbeit in einer unscheinbaren Zwei-Zimmer-Anwaltskanzlei will sie ihrem schmuddeligen, viel jüngeren Chef (Henry Lloyd-Hughes) gefallen; Ian ist eifersüchtig. Sie unterdrückt ihre Gefühle lieber, um irgendwie durch den Tag zu kommen, während Ian daheim schluchzt.
Andere Belastungen quellen aus tieferen, dunkleren Spalten hervor. Weder Emma noch Ian, noch ihre erwachsene Adoptivtochter (Chantelle Alle), können über einen schrecklichen Verlust sprechen. Stattdessen weinen sie wortlos am Grab. Letztlich geht es in Marriage darum, wie diese Menschen miteinander sprechen, ohne wirklich etwas zu sagen. Die aufgesetzte Fröhlichkeit in seinem Blick. Ein unterdrücktes Grinsen in ihrem. Man kann alles in den ausdrucksstarken Gesichtern der Schauspieler lesen.
In einer wortlosen Szene, während Emma und Ian fernsehen, zieht Ian seine Schuhe auf dem Couchtisch aus und streckt seine Zehen. Emma sagt nichts. Ein Seitenblick genügt. Wie einen kühlen Luftzug unter der Tür spürt er die Kritik und zieht seine Schuhe wieder an. Eine andere Szene zeigt die beiden, wie sie sich wie schamlose Teenager auf einer Treppe küssen. Wenn sie die Küche aufräumen, bewegen sie sich gemeinsam synchron durch den Raum wie einstudiert. Wenn der neue, unsympathische Freund der Tochter das Haus verlassen hat, kichern und lästern sie über ihn.
Abstufungen von Beige, Grau und Blaugrün dominieren, optisch wie emotional. Dann explodiert der Dialog plötzlich, oder Ian zertrümmert ein Auto – ein Widerhall des Refrains, der am Anfang und am Ende jeder Folge ins Bild platzt. Caroline Shaws „Partita for 8 Voices“, für den die Amerikanerin 2013 mit dem Pulitzerpreis für Musik ausgezeichnet wurde, beginnt mit gesprochenen Tanzanweisungen, die sich immer mehr verdichten und überlagern und auf einmal in strahlende Akkorde münden.
Wer sich nach der ganz großen (dick aufgetragenen, verkitschten oder zuckerverklebten) Hollywood-Romanze sehnt, wird woanders fündig. Marriage ist ein Kunstwerk des Understatements, wunderschön geschrieben und gespielt, und eine der aufrichtigsten Darstellungen der Liebe, die wir je im Fernsehen gesehen haben. Man braucht schon ein wenig Vertrauen. Man muss die Hand ausstrecken, in der Hoffnung, dass die Geste erwidert wird.