Sex like that

Streaming-Tipps KW 50

The Great S2, 2021, Tony McNamara

Eine jüdische Sexarbeiterin, eine fabelhafte Kaiserin, algorithmische Doppelgänger. And put the „sex“ back in the city!

Der Schrei eines Babys hat etwas an sich, das etwas in unserem Urgehirn auslöst. Emma Seligman verwendet diesen Klang wie einen Sirenenalarm in ihrem Debütfilm Shiva Baby (Mubi), einem perfekten Stück possierlichen Erschauderns. Der dissonante Klangteppich des Films, gezupfte Saiten, spiegelt den eines Horrorfilms wider. Die Nerven fangen an zu fransen, von dem Moment an, in dem Danielle (Rachel Sennott) bei der titelgebenden Shiva, dem jüdischen Trauerritual, auftaucht. Hier gibt es viel, um das Danielle auf Zehenspitzen herumschleichen muss: ihre Bisexualität, ihre Ex-Freundin, der Sugar Daddy, der sie für Sex bezahlt, und dem sie am Klo einen blasen will, ein kreischendes Baby, ihre ungewisse Zukunft. Ältere Damen strecken ihre Hände nach ihr aus, um ihre Wangen zu tätscheln, an ihrem zierlichen Körper zu zupfen. Hat sie schon einen Freund? Warum nicht? Hat sie eine Ess-Störung? Es passiert viel und Emma Seligman hält die Kamera konstant auf Rachel Sennotts ausdrucksstarkes Gesicht, die beengende Bestandsaufnahme einer jungen Frau, während sie irgendwo zwischen urkomischem Nihilismus und herzzerreißender Existenzkrise baumelt.

Shiva Baby, 2021, Emma Seligman

Nicht ganz so sexpositiv läuft es in einer Serie ab, die einst entspannt über Analsex und weibliche Ejakulation reden konnte. Das neue Kapitel von Sex and the City ist ein Sex-loses Zombie-Durcheinander. Beim Anschauen von And Just Like That… (Sky) fühlte ich mich alt, und das nicht, weil ich, wie diese Damen, seit der Originalserie gealtert bin, sondern weil so vieles schmerzlich erzwungen ist. Es dauert keine fünf Minuten und wir werden daran erinnert, dass sie alle jenseits der Fünfzig sind; dass es eine Pandemie gab (die in der Serie dann einfach so verschwunden ist); dass Kim Cattrall nicht an der Fortsetzung teilnehmen wollte (was bedeutet, dass Samantha verschwunden ist – nicht tot, wie jemand erklärt, sondern „in London lebt“); und dass Social Media und Black Lives Matter passiert sind. Ach ja, und Big hat ein Peloton!

Sarah Jessica Parkers Carrie zieht sich immer noch so an, als ob sie auf dem Laufsteg wäre. Wenn sie liebevoll ihre Schuhkollektion betrachtet, gurrt sie immer noch: „Hello, lovers“. Aber sie ist jetzt eine verklemmte „Cisgender-Frau“ in einem Podcast, und dann ist es ihr peinlich über Selbstbefriedigung zu reden? Ohne Samantha hat keine von ihnen Sex, was vermutlich einer der Gründe ist, warum der Titel geändert werden musste. Miranda (Cynthia Nixon) hat seit Jahren keinen Sex mit Steve, der jetzt ein Hörgerät trägt, aber sie stolpert ständig über Kondome ihres Sohnes Brady. Der einzige Sex, den wir in den ersten zwei Folgen erleben, ist der von Brady mit seiner Freundin. Sex and the City war Ende der Neunziger eine Serie, die offen mit Sexualität umging. Sie war auch, wie vieles im Fernsehen damals, sehr hetero und sehr weiß. Das neue Kapitel zeigt endlich auch Menschen, die nicht weiß sind, aber es ist ziemlich gekünstelt. Jede Frau bekommt eine nicht-weiße Freundin zur Seite gestellt. Zeitgeistige Serien wie Sex and the City werden oft dafür beschimpft, dass sie nicht „gut altern“. Aber vielleicht sind sie einfach nicht dazu bestimmt?

And Just Like That…, 2021, Michael Patrick King, Darren Star

Eine Serie, die ihrem Titel großartig gerecht wird, ist einfacher denn je zu lieben. Die erste Season von The Great  (Starzplay/Prime Video ab 19.12.) folgte der „gelegentlich wahren Geschichte“ von Katharina der Großen (Elle Fanning) in den frühen Tagen ihrer arrangierten Ehe, die in einem Staatsstreich gipfelte. Katharina hat Peter (Nicholas Hoult) die Macht entrissen, überzeugt davon, dass er ein amoralisches Man-Baby ist und dass sie eine humane Diktatorin sein kann. Sie hat ethische Bedenken hinsichtlich der Leibeigenschaft, aber es fällt ihr schwer, die Adligen davon zu überzeugen, dass Diener nicht gern mit Messern beworfen werden. Bei jeder Veränderung, die sie umzusetzen versucht, muss sie sich Dutzenden von mürrischen, alten Männern stellen. Außerdem ist sie schwanger und ihre Berater legen ihr einen Frosch auf den Bauch, um dem Baby beim Wachsen zu helfen, und sagen ihr, dass das Kind im Mutterleib explodieren könnte, wenn es nicht genug Orgasmen hat. The Great wurde von Tony McNamara geschaffen, der gemeinsam mit Yorgos Lanthimos The Favourite geschrieben hat, und die gleiche ungeheuerliche Schlagfertigkeit und die gleiche schwindelerregende Absurdität ziehen sich durch die gesamte Serie. „Ich werde dich so, so langsam töten“, erklärt Katharina spät in der zweiten Staffel einem Feind. „Und ich werde viele französische Wörter mit perfektem Akzent sagen, während ich deine Haut von deinem Körper schäle und dein Fleisch mit Rosmarinsalz einreibe.“ Das Problem der aufkommenden Moderne war selten so lustig.

The Great S2, 2021, Tony McNamara

Apropos Yorgos Lanthimos. Sein 12-Minüter Nimic (Mubi) eröffnet wieder einmal einen fischäugigen Blick in den wundervoll seltsamen Kopf dieses griechischen Regisseurs. Matt Dillon spielt einen Cellisten, dessen Identität von einem Imitator gestohlen wird, von der völlig unähnlichen Daphne Patakia, um genau zu sein. Nimic wird zu einem makabren Spiel, wenn die Frau beginnt, ihm und seinen Bewegungen zu folgen. Ähnlich unharmonisch und unheimlich ist die Partitur, bestehend aus der Musik von Benjamin Britten und dem experimentellen Komponisten Luc Ferrari. Lanthimos hat sich zunehmend dem Surrealen im Herzen seiner Filme verschrieben, davon zeugt auch Nimic.

Um Doppelgänger geht es auch in Swan Song (Apple TV+) – nicht zu verwechseln mit dem großartigen Swan Song mit Udo Kier – in dem ein sterbender Mahershala Ali versucht, seiner Familie Leid zu ersparen, indem er sich klonen lässt. Wie in so vielen Science-Fiction-Filmen geht es um sehr menschliche Fragen der Identität. Noch viel besser behandelt solche Fragen Ich bin Dein Mensch von Maria Schrader. Es ist einer der seltsamsten, sehnsüchtigsten, einsamsten Filme über algorithmische Liebe. (ARD Mediathek bzw. am 22.12. im Ersten ­– denn lineares Fernsehen gibt es ja auch noch!)