Liebes Kind

Was macht den Erfolg des Netflix-Sechsteilers aus?

Klefeld, Pörksen, Liebes Kind
Liebes Kind, 2023, Isabel Kleefeld, Julian Pörksen © Netflix

„Liebes Kind“: Seit Wochen liegt die Entführungsthriller-Bestselleradaption weit oben in den Seriencharts von Netflix Österreich, Deutschland und Schweiz – und wird laut Netflix auch in vielen anderen Ländern häufig gestreamt.

Eine Frau wird entführt und ist wie vom Erdboden verschluckt, über Jahre, am Ende dann die Flucht, und der Entführer bekommt eine Axt oder eine Hacke oder Ähnliches in den Hals gerammt. So beginnen und enden einige Thriller, die um das Sujet „Ein Mensch verschwindet“ kreisen. Die Miniserie Liebes Kind auch, sie setzt allerdings später an, mit der Flucht, die abrupt von einem Autounfall unterbrochen wird. Das Unfallopfer liegt nicht ansprechbar im Krankenhaus und eine Polizistin, der Vater der Entführten (die dann aber doch noch einmal jemand anders ist) und ein mit ihrer Familie befreundeter, vom eigenen Scheitern zerrütteter Ermittler machen sich auf die Suche nach der Wahrheit.

Das Stärkste an Liebes Kind ist die Titelheldin, die isoliert in einem bizarren, von der Restwelt isolierten Vater-Mutter-Kinder-Dreieck aufgewachsene Hannah (Naila Schuberth). Der Entführer hält sie, ihre Mutter Lena und ihren jüngeren Bruder gefangen, eingesperrt hinter dicken Mauern, und führt ein Terrorregime aus streng zu befolgenden Regeln. Eine Architektur gewordene Festungsfamilie, nichts darf rein, nichts darf nach außen. Das Mädchen bleibt ein Rätsel, bis zum Schluss weiß man nicht, was genau ihr Auftrag ist. Aber dass sie einen hat, wird schnell klar.

Riedle, Schein, Schuberth, Liebes Kind
Kim Riedle, Sammy Schein, Naila Schuberth

Über die ersten vier Folgen tragen die Figuren die manchmal hart an der Grenze der Plausibilität gebaute Geschichte sehr gut. Naila Schuberth reiht sich ohne Weiteres in die Tradition der gruseligen Filmkinder ein und spielt den Rest des Casts mit stiller Präsenz an die Wand. Die Ermittlerfiguren bleiben da im Vergleich eher blass, und gerade wenn es expressiv werden soll, wirkt manches steif. Justus von Dohnányi als Vater der Entführten zum Beispiel hangelt sich engagiert von Ausbruch zu Ausbruch, aber am besten funktioniert Liebes Kind, so lange die Emotionen und Gefühle im Ungeklärten und Ambivalenten bleiben.

Das gilt auch für den Plot. Die Rekonstruktion des Verbrechens im steten Wechsel zwischen Trauma-Flashbacks und Ermittlungsfortgängen ist schön konstruiert, und auf der Ebene der kindlichen Erfahrung auch nachvollziehbar und deswegen auch anrührend. Das Seelenleben der Erwachsenen wirkt dagegen ziemlich schematisch und schließt den das Verbrechen final erklärenden Täterfamilienroman ein. Zumal Liebes Kind der eigenen, anfänglichen Konzentriertheit und Ruhe nicht so ganz zu vertrauen scheint und im Verlauf immer mehr auffahren muss: Sprengkommando, Serienmord, psychische Abhängigkeiten, ein omnipräsenter Mastermind, vor dem es kein Entrinnen gibt.

Trotzdem – und ganz abgesehen davon, dass es an sich schon ganz erfreulich ist, wenn der deutschsprachige Film an Genre-Stoffe rangeht – ist Liebes Kind über weite Strecken gelungenes Thrillerkino, dessen Rätsel und Rätsellösungen man gerne mitgeht. Nur am Ende, gerade wenn das Kreativteam um Isabel Kleefeld und Julian Pörksen das Tempo anziehen möchte, wird es etwas langatmig und überkonstruiert. Aber das ist eher ein Schönheitsfehler, kein grundlegendes Problem der Serie.

 

Liebes Kind
Deutschland 2023, Drehbuch & Regie Isabel Kleefeld und Julian Pörksen, basierend auf dem Roman von Romy Hausmann
Mit Kim Riedle, Naila Schuberth, Sammy Schrein, Hans Löw, Justus von Dohnányi
Laufzeit 6 Folgen à 46 bis 50 Minuten