Ein Meta-Akt des Exorzismus und ein Pulp-Actioner („Honey Boy“ und „Desperado“ auf Netflix) und zwei „Zugfilme“ (Disney+ bzw. Mubi), die unterschiedlicher nicht sein könnten.
„Ich werde einen Film über dich machen“, sagt Otis in den letzten Momenten von Honey Boy zu seinem Vater. Und er hat es tatsächlich getan. Der US-Schauspieler Shia LaBeouf hat mit dem Drama seine Kindheit und Jugend verarbeitet. Geschrieben hat er Honey Boy als Teil einer gerichtlich verordneten Reha-Therapie, dadurch verstärken sich noch die autobiografischen Noten der Geschichte, die überdies die mulmigen Qualitäten eines katholischen Geständnisses hat.
Im Film lebt der missbräuchliche Vater, James genannt, ein ehemaliger Rodeo-Clown und verurteilter Sexualstraftäter, vom Einkommen seines zwölfjährigen Sohnes, den er als Kinderschauspieler einsetzt. Die beiden hausen, von Drogen umnebelt, in einem ranzigen Motel. Es ist James, der Otis dessen erste Zigarette anbietet, und später den ersten Joint. Er sagt ihm, dass sein Penis zu klein ist, und wir sehen, wie Otis später als Erwachsener immer noch darunter leidet. Wir treffen ihn auf dem Set eines Actionfilms (wohl eine Anspielung auf die Transformers-Filme). Er beschreibt sich selbst als „Egomanen mit Minderwertigkeitskomplexen“ und wird nach einem Autounfall in die Reha verwiesen.
Honey Boy (2019, neu auf Netflix), ist das Spielfilmdebüt der israelischen Dokumentarfilmemacherin Alma Har’el (Bombay Beach). Sie schlug LaBeouf vor, seinen Vater zu spielen, was er sonst wahrscheinlich nicht in Betracht gezogen hätte. Dazu engagierte er Noah Jupe und Lucas Hedges als sein jüngeres Ich im Alter von 12 bzw. 22 Jahren. Har’el schuf einen Fiebertraum aus Neonlichtern und Nostalgie. Mit LaBeouf zusammen drehte sie das Musikvideo von Sigur Rós’ „Fjögur píanó“ und ihren einzigartigen Sinn für Stimmung verfeinert die israelische Visionärin in Honey Boy weiter.
Sicherlich wandert der Film am Grat zwischen Affektiertheit und Echtheit, aber so funktioniert nun einmal Kunsttherapie. Honey Boy ist kein Biopic, sondern, wie LaBeouf es selbst einmal gesagt hat: „ein Meta-Akt des Exorzismus“.
Auch auf Netflix zu sehen ist der stylische Pulp-Actioner Desperado. Im Jahr 1992 drehte Robert Rodriguez mit einem Mikrobudget von 7.000 Dollar seinen ersten Spielfilm El Mariachi in 16mm und auf Spanisch. Das bedeutete Narrenfreiheit. Ein Gutteil des Vergnügens bestand darin zu sehen, wie gut der talentierte Pyromane seine Fantasie mit äußerst wenigen Mitteln nutzen konnte. Weil der Film so erfolgreich war, gab ihm Columbia Pictures das tausendfache Budget (7 Millionen) für ein amerikanisches Quasi-Remake. Das Ergebnis hieß Desperado (1995) und behielt das kinetische Flair des Originalfilms nicht nur bei, sondern baute es weiter aus.
Die Story ist schnell erzählt: Antonio Banderas kommt mit schneidigem Pferdeschwanz und einem Gitarrenkoffer voller Waffen in eine mexikanische Kleinstadt, um den Mord einer früheren Flamme zu rächen (sie wird von Salma Hayek ersetzt), und sich in einer endlosen Reihe überspannter Feuergefechte auf Dächern und in Spelunken wiederzufinden. Es ist eine Hommage an die große filmische Tradition von Helden, die ihre Taten sprechen lassen; ein Buch, das von Steve McQueen und Clint Eastwood geschrieben und neu geschrieben wurde, aber auch Zitate aus dem Hong-Kong-Action-Kino enthält.
Robert Rodriguez entlastet die Leichentürme mit lustigen Schurken und Schädlingen, darunter Quentin Tarantino als reizbarer Drogenkonsument, der unfreiwillig in ein Kneipenmassaker verwickelt wird, oder Steve Buscemi, der sich wieselartig in einer Bar voller finsterer Bösewichte behauptet.
Wie viele spätere Filme von Rodriguez hat Desperado eine Chuzpe, die es leichter macht, seine Mankos zu ignorieren. Es ist ein Pulp-Fest von einem Typen, der danach weiter Filme machen würde (darunter From Dusk Till Dawn und die Sin City-Filme), aber damals noch keine Ahnung hatte, ob Hollywood ihm je wieder Geld geben würde.
Außerdem: Die österreichische Avantgarde is alive and well. Es ist ein schönes Erlebnis, einen Film von Peter Tscherkassky auf einer Kinoleinwand zu sehen, aber jetzt kann man das auch zu Hause – dank Mubi. Tscherkasskys schwarzweißer 20-Minüter Train Again (Titel-Hommage an Kurt Krens Tree again) entfaltet sich wie ein Schleudertrauma. Das pochende Dampfen einer Lokomotive, das Galoppieren von Pferden und das unheimliche Kreischen von Metall bilden eine seltsame Trance innerhalb einer neuen Filmwelt, die die Geister der Brüder Lumière, Edwin S. Porter und Víctor Erice beschwört. Flackernde Fragmente und unscharfe Negative, die sich in rasendem Tempo wie ein Nitratfilm zersetzen. Die Moderne ist nicht aufzuhalten – wie ein Zug oder eben ein Zugfilm, der einen überrollt.
Ein anderer, der Züge liebt, ist Wes Anderson. Der amerikanische Filmemacher entwarf im vergangenen Jahr das Design für einen der elf Waggons eines englischen Luxuszugs. Im Jahr 2007 hat er einen Zug ins Zentrum seines fünften Spielfilms gestellt: The Darjeeling Limited (bei Disney+). Er folgt drei amerikanischen Brüdern, großartig gespielt von Owen Wilson, Adrien Brody und Jason Schwartzman, die sich nach dem Tod ihres Vaters auf eine spirituelle Zugreise durch Indien begeben. Und natürlich steckt hier all die Liebe zum Detail drin, für die Wes Anderson so berühmt geworden ist. Mögen ihm Kritiker:innen auch vorwerfen, er ziehe den Stil der Substanz vor: The Darjeeling Limited ist ein in jeder Hinsicht schöner Film, ein sehr menschlicher Film, und einer der besten in seinem insgesamt bemerkenswerten Oeuvre.