Handlungsarme Netflix-Hits

Streaming-Tipps KW 49

Burton, Wednesday
Wednesday, 2022–, Alfred Gough, Miles Millar, Tim Burton

Tim Burtons Miniserie „Wednesday“, Mike Flanagans „The Midnight Club“ und das CGI-Spektakel „Troll“ haben etwas gemeinsam: Plot egal, Herz am rechten Fleck, jugendlich-nostalgischer Netflix-Hit-Style.

Das ging schnell und war doch recht überraschend: Kurz nach Start war Wednesday, die erste Netflix-Produktion von Tim Burton, der zuletzt nicht gerade filmische Großtaten fabriziert hat, eine der fünf erfolgreichsten Serien des Streaming-Portals bislang. Der Achtteiler bringt es auf über 800 Millionen Streaming-Stunden, über 100 Millionen Haushalte haben sich das bislang angeschaut. Da drängt sich die Frage auf, warum gerade eine Fortschreibung des eigentlich ja sehr verblichenen Addam’s Family-Franchise so durch die Decke geht. Die einfachste Antwort ist, dass es Wednesday gelingt, zwei der erfolgversprechendsten Komponenten des fantastischen Films, der für (nahezu) alle Altersstufen ab 12 aufwärts funktionieren soll, zusammenzubringen.

Die Titelheldin (Jenna Ortega) wird von ihren Eltern, Gomez und Morticia A. Addams, in ein Außenseiter-Internat gesteckt, das als Mikrokosmos ähnlich wie Hogwarts eine Mischung aus Elite-Institution, Highschool und magischem Paralleluniversum darstellt. „Nevermore“, Edgar Allan Poe soll ebenfalls hier zur Schule gegangen sein. Zum Topos der fantastischen Lehranstalt, die seit Harry Potter immer wieder im Genre auftaucht, kommt – wie bei Stranger Things – eine über verschiedene Kanäle evozierte Nostalgie, die dann auch und vor allem ältere Zuschauer:innen kriegt. Das wäre in diesem Fall zuvorderst das Tim-Burton-Universum. Burton schließt mit Wednesday wieder an seine früheren großen Außenseiter-Erzählungen an (Edward mit den Scherenhänden, Ed Wood und zuletzt Die Insel der verlorenen Kinder), nachdem seine Filme zuletzt etwas irrlichternd und entstofflicht gewirkt hatten.

Die Außenseiterin ist hier eine, die die weit verbreiteten Makel des schief in die Welt gestellten Menschen (Unwohlsein in vielen sozialen Situationen, erschwerter Zugang zu den eigenen Gefühlen, Autismus-artige Züge, strahlende Intelligenz) in Waffen, Qualitäten und Wortwitz verwandelt hat. Das scheint das zentrale Faszinosum der Serie zu sein, zumindest auf der Ebene der Figuren. Soziopathie als Superkraft.

Wednesday bezieht einen Großteil seiner Anziehungskraft aus seiner Atmosphäre, wohliger Retromania und seiner Heldinnenfigur. Vergleichsweise egal scheinen ein sauber konstruierter Plot, Spannung oder gar überraschende, plausible Wendungen zu sein. Damit reiht sich die Serie in eine ganze Reihe jüngerer Produktionen ein, die allesamt nicht mehr plot driven, sondern character driven wirken. Nicht in dem ursprünglichen Sinne des Begriffes, dass es hier um Figurenpsychologie und Empathie ginge. Character driven heißt in diesem Fall, dass die Hauptfiguren die Serien tragen müssen, während man nach einer Folge schon mal Probleme hat, die Story zusammenzufassen. Nicht weil sie so kompliziert wäre, sondern weil sie so egal ist, letzten Endes. Ins Zentrum rücken denkwürdige Oneliner, einzelne Situationen und Sequenzen (der Hashtag #wednesdaydance ging schon mal viral) und meme-taugliche Dialogzeilen. Ähnliches kann man jüngst auch an Mike Flanagans Gruselgeschichtenerzählclub Gänsehaut um Mitternacht beobachten.

Oder man bemerkt es beim norwegischen Film Troll, dessen Kernidee im Titel schon recht komplett enthalten ist, dessen Regisseur Roar Uthaug allerdings zuallererst auf Materialschlacht setzt. Ein Troll kommt aus den norwegischen Bergen, haut die anrückende Armee kaputt und marschiert auf Oslo zu. Wieder sind es Sonderlinge – eine Paläontologin (Ine Marie Wilmann), ihr verschwörungstheorieaffiner Vater (Gard B. Eidsvold) und ein nerdiger Regierungsbeamter (Kim Falck) –, die die Lage klären, wo der militärisch-industrielle Komplex umgehend versagt.

Das eine ist das vergleichsweise hübsche, aber auch nicht weltbewegende CGI-Spektakel, das Troll auffährt. Sehr schön aber ist, wie hier gängige Topoi des latent woken Fantasy-Kinos angetippt werden. Der Troll ist verbunden mit der kolonialen Vergangenheit der eigenen herrschenden Klasse, das Monster ist moralisch im Recht; auch in Wednesday kehrt die unter der polierten Oberfläche der Normalität verborgene Gewaltgeschichte der eigenen Gesellschaft wieder zurück, hervorgeholt von grenzüberschreitenden Outsider-Figuren, die mehr und anderes sehen als die Normalen. Troll wird man nach dem Sehen schnell wieder vergessen haben, aber das ist nicht schlimm, in diesem Fall. Für anderthalb Stunden trägt der schöne Radau ohne Weiteres, und das Herz am rechten Fleck hat er auch.

Nächste oder übernächste Woche widmen wir uns an dieser Stelle der vorzeitig abgesetzten Science-Fiction-Westernserie Westworld, deren vierte Season nun leider die finale wird.