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Streaming-Tipp KW 39: „Blonde“

Dominik, Blonde
Blonde, 2022, Andrew Dominik

Andrew Dominik hat mit „Blonde“ die Tragödie der Marilyn Monroe als fast dreistündige Opera seria inszeniert – auf Netflix.

Ich habe Blonde bei einer Pressevorführung im Kino gesehen, aber ich kann mich nicht daran erinnern, wann ich das letzte Mal bei einem Film so oft auf Pause drücken wollte. Zweifelsohne werden viele in Versuchung geraten, genau das zu tun. Den Film kann man seit Mittwoch auf Netflix sehen. Aber es lohnt sich, den Finger von der Taste zu lassen. Wer die Geduld und den Mut hat, sich auf das absichtlich schwierige Gespräch einzulassen, das der australische Filmemacher mit seinem Publikum zu führen versucht, wird möglicherweise belohnt.

Der Film fühlt sich so finster an wie er beginnt: mit einem roten Flammeninferno, das die Hügel von L.A. verschlingt. Asche rieselt wie Schnee vom Nachthimmel. Die Mutter von Norma Jeane fährt in ihrem Auto wütend auf die Höllenlandschaft in den Hollywood Hills zu. Der berühmte Vater ihrer Tochter lebt dort oben in einer feuerfesten Villa, behauptet sie. Wer ist ihr Vater? Das ist die Frage, die Norma Jeane und den Film verfolgt. In der nächsten Szene versucht die wahnsinnige Mutter, gespielt von Julianne Nicholson, ihre siebenjährige Tochter in einer brennend heißen Badewanne zu ertränken. Das ist wirklich nur ein Vorgeschmack auf die Dinge, die noch kommen werden.

Die Mutter landet in der Psychiatrie. Das Mädchen wird ins Waisenhaus gesteckt. Wir springen dann in die Zukunft und hören das Lied „Every Baby Needs a Da-Da-Daddy“ aus dem 1948er Musical Ladies of the Chorus. Norma Jeane ist jetzt das Starlet Marilyn Monroe, gespielt von Ana de Armas. Das Trauma des ungeliebten Mädchens ist zu Fleisch geworden, in Form einer Blondine, die von allen vergöttert wird. Hollywood ist immer noch eine Hölle, nur dass die jetzt anders aussieht. Bei einem Vorsprechen für einen Film wird sie von einem Produzenten vergewaltigt. Er gibt ihr dann eine Rolle.

Blonde, Andrew Dominik
Adrien Brody, Ana de Armas

Es gibt viele polemische Momente, die Diskussionen anregen werden und das auch schon getan haben. Da sind die Vergewaltigungen, eine „Gebärmutter-Kamera“ oder ein sprechender Embryo, der darum bettelt, nicht abgetrieben zu werden. Und dann ist da natürlich die Tatsache, dass dieser Film, der von der Ausbeutung einer Frau handelt, sich selbst an dieser Ausbeutung auf gewisse Weise mitschuldig macht. Es ist zum Hadern.

Es gibt Szenen, die einige der kultigsten Momente nachstellen, etwa wenn Marilyn auf einem U-Bahn-Schacht steht und der Wind ihr weißes Plisseekleid hochbläst. Sie lacht in ein Blitzlichtgewitter. Im wirklichen Leben wurde die Szene als Werbegag vor Publikum gedreht. Auch in Blonde ist es so, aber der Regisseur verwandelt die sabbernde Menge in einen garstigen Horror-Mob.

Es gibt auch einen sehr schönen surrealistischen Moment: einen komplett erfundenen, erotischen Dreier, der als elegant verzerrtes Kaleidoskop von Körpern gefilmt wurde. Schwer zu beschreiben, wie auch folgende Szene: Während sie zum Orgasmus kommt, klammert sich Norma Jeane an ein Bett, das zu einem Wasserfall wird, der von dem Titel ihres Films Niagara (1953) überlagert wird und dem Satz: „Ein reißender Strom von Emotionen!“ Man kann seinen neuen Film höchst ambivalent finden, aber Andrew Dominik, bekannt für das Westerndrama The Assassination of Jesse James by the Coward Robert Ford (2007) oder den brutalen Thriller Killing Them Softly (2012), ist ein begnadeter Filmemacher und Provokateur.

Die Männer in Norma Jeanes Leben behandeln sie wie ein kleines Kind, nicht zuletzt, weil sie auch ein traumatisiertes Kind geblieben zu sein scheint und alle „Daddy“ nennt. Ihr erster Ehemann (Bobby Cannavale) schlägt sie und verlässt sie dann, weil er es nicht ertragen kann, mit einem Sexsymbol verheiratet zu sein. Arthur Miller (ein großartiger Adrien Brody) nimmt ihre Worte und fügt sie in seine Theaterstücke ein, ohne es ihr zu sagen. JFK (Caspar Phillipson) behandelt sie wie ein Stück Fleisch. Hollywood verschluckt sie und spuckt sie wieder aus. Das New York Magazine schrieb: „Blonde will Ihnen weh tun.“ Und das konsequent: Fast drei Stunden lang entfaltet sich der Film zu einer Oper des Leidens. Dass Blonde Marilyn Monroe zum infantilen Schlachtopfer ihrer eigenen Geschichte macht, ist sein größter Fehler. Er würdigt auch nicht ihre eigene Rolle, die Monroe bei der Schöpfung der Kunstfigur gespielt hat. Und er tut ihr damit keinen Gefallen. (Wie schwer sich die Kritik insgesamt mit dem Film tut, lässt sich z.B. auch in der SZ nachlesen.)

Dass Blonde trotzdem ein kraftvolles Filmerlebnis ist, ist Ana de Armas zu verdanken. Die kubanisch-spanische Schauspielerin hat ein perfektes Gesicht, strahlende Augen und ein schüchternes Lächeln, das fleht: Bitte, liebt mich! Im Grunde spielt sie zwei Figuren: Norma Jeane, die „echte“ Frau, und Marilyn Monroe, ihre größte Rolle, die so unecht war wie die Farbe ihrer Haare, die dem Film und dem Buch auf dem er basiert, seinen Titel geben. Blonde fußt auf dem umstrittenen, im Jahr 2000 erschienenen Roman von Joyce Carol Oates, die sich mit dem Leben der Schauspielerin sehr viele Freiheiten genommen hat.

Im Grunde genommen geht es um eine Frau, jede beliebige Frau, die den sehr menschlichen Wunsch hat, geliebt zu werden – und daran schlussendlich zerbricht. Sie hat es selbst gesungen in Billy Wilders 1959er Klassiker Some Like It Hot: „I wanna be loved by you“.