„Pistol“ (Disney+) von Danny Boyle und Craig Pearce sowie „Cold War“ von Paweł Pawlikowski (Netflix u.a.): ein außergewöhnlicher Double-Feature-Vorschlag.
Bei manchen Bands trägt der Mythos weiter als das musikalische Material. „Never Mind the Bollocks“, das erste und einzige Album der Sex Pistols, lebt von allem, was drumherum passiert ist, 1977, the year punk broke. Da wären vor allem eine ganze Ästhetik, Klamotten und Accessoires, die Vivienne Westwood in ihrer Boutique entwickelte, die am Situationismus orientierten Aktionen ihres Lebensgefährten und Sex-Pistols-Manager Malcolm McLaren, unflätige Fernsehauftritte, Drogenexzesse, Schlägereien, die schönen Heroin-Leichen Sid (Bassist) und Nancy (Groupie). Und über all dem schwebte das große Versprechen des Punk, bis heute gültig und von großer Faszination: dass man, in einem traditionellen Sinne, nichts können muss, um sich ausdrücken zu können mit Musik.
Regisseur Danny Boyle und der Drehbuchautor Craig Pearce haben auf der Basis der Autobiografie des Sex-Pistols-Gitarristen Steve Jones, „Lonely Boy“, eine sechsteilige Miniserie gedreht. Vier Jahre, in denen diese Band existierte und die Popwelt maßgeblich veränderte, werden rekonstruiert (und mit viel Phantasie ausstaffiert) und um viele bis dahin ungekannte Möglichkeiten ergänzt. Steve Jones, von Toby Wallace als grundsympathischer verlorener Junge gespielt, steht dementsprechend im Zentrum, bald ergänzt von Johnny Rotten (Anson Boon im Klaus-Kinski-meets-britisches-Proletariat-Modus). Als Schauspielerkino funktioniert Pistol ausgezeichnet, wechselt souverän den Ton zwischen Dekadenporträt und Drama, manchmal in derselben Szene. Die körnigen, immer wieder ins Delirierende ausbrechenden Bilder von Anthony Dod Mantle, Boyles Haus-Kameramann, verdichten die überhitzten Ausbruchsversuche und Exzesse immer wieder aufs Wesentliche. Langweilig ist das keine Minute.
Ob man die Freiheiten, die das Skript von Pearce (der vor allem an den Baz-Luhrmann-Filmen Romeo + Juliet, Moulin Rouge!, The Great Gatsby und zuletzt Elvis mitgeschrieben hat) sich nimmt, nun eher blöd oder stimmig findet, muss man selbst entscheiden. Es hilft jedenfalls, Pistol als ein weiteres Kapitel in der Mythisierung dieser Band und damit der Teenager Rebellion generell zu verstehen. Ein Mythos, den die Bilder gerade in den letzten beiden, allerdings schwächeren Folgen graduell unterlaufen, wenn sie am Beispiel Sid und Nancy spürbar machen, dass eine deviante Szene – Punk in diesem Fall – oft auch nur eine Möglichkeit bot, für Menschen, die wirklich hilfs- und therapiebedürftig waren, nicht weiter aufzufallen beziehungsweise die eigenen Defekte als Material für Pop-Ästhetik zu nutzen. Was gut gehen, aber eben auch, wie im Falle der beiden Drogentoten, schrecklich enden kann.
Am Beispiel Johnny Rotten wiederum zeigt Pistol, dass das Versprechen, jeder könne alles machen, ohne etwas zu können, auch nicht ganz so einfach einzulösen ist. In den langen Sequenzen, die die Serie erfreulicherweise auf die Rekonstruktion der Entstehung der Musik, des spezifischen Bandsounds verwendet, wird deutlich, dass hier schon einige Inselbegabungen zusammenkamen. Johnny Rotten war und ist ein großartiger Texter, und eine Zeile, die eine ganze Ära so genau auf den Punkt bringt wie „There is no future in England’s dreaming“ hat eben sonst auch niemand hinbekommen.
Eine zumindest filmästhetische Antithese nach dem bunten Farbenrausch von Pistol ist neuerdings auf Netflix (und gegen geringes Entgelt auch auf anderen großen Plattformen) zu sehen. Cold War war seit 2018 auf so einigen Festivals zu sehen und erhielt Auszeichnungen beim Europäischen Filmpreis und für die beste Regie in Cannes. Dem Film, dem für den deutschen Markt der etwas schwachsinnig anmutende Untertitel Der Breitengrad der Liebe beigegeben wurde, ist in kontrastreich realsozialistischem Schwarzweiß gefilmt. Die Bilder sind streng durchkomponiert und trotzdem voller Leben, so als würde es hinter ihrer Tristesse pulsieren. Was formal wiederum wunderbar zu der Geschichte passt, die Regisseur Paweł Pawlikowski und sein Drehbuchautor Janusz Głowacki erzählen: die Geschichte einer Liebe (gespielt von der atemraubenden Joanna Kulig und Tomasz Kot), die im Polen der Nachkriegszeit beginnt und sich über 15 Jahre erstreckt. Andere Filmemacher:innen hätten für diese Verbindung von privater und politischer Geschichte drei Stunden gebraucht. Pawlikowski aber erzählt so dicht und konzentriert, dass er mit knappen anderthalb hinkommt.
Der Film fühlt sich allerdings länger an, nicht weil Cold War langweilig wäre, sondern weil danach der Eindruck dominiert, dass man hier unheimlich viel wahrnehmen und spüren durfte. Es geht um Möglichkeiten des Eigensinns im realexistierenden Sozialismus, um Eifersucht und Treue und um die Möglichkeiten von künstlerischer Produktion unter repressiven Bedingungen. In diesem Sinne eignet sich Cold War dann auch für ein langes Double Feature zusammen mit Pistol.