Boy Swallows Universe

Traumhafte Roman-Adaption als Netflix-Miniserie

Collee, Dalton, Cameron, Tonkin, Boy Swallows Universe
Boy Swallows Universe, 2024, John Collee © Netflix, Inc.

„Boy Swallows Universe“: Bemerkenswerte Serialisierung des semi-autobiografischen Romans des Journalisten und Schriftstellers Trent Dalton – eine Einordnung.

Wie filmt man Armut und Elend? Schwierig genug, die Kamera wird meist nicht von Menschen geführt, die es aus der sogenannten Unterschicht heraus und an die Filmhochschule geschafft haben, auch die Regisseure und Produzenten schauen meist aus der Außenperspektive auf die Schicksale der Abgehängten. Und „außen“ meint in diesem Zusammenhang meist das gleiche wie „von oben“, zwangsläufig. Die traditionell etablierte Möglichkeit ist der Sozialrealismus: Man organisiert Aufnahme, Montage und Narration so, dass der Eindruck des Dokumentarischen entsteht, und das Ergebnis ist dann zum Beispiel so etwas wie Accattone – Wer nie sein Brot mit Tränen aß oder Mamma Roma von Pier Paolo Pasolino (Vater Berufsoffizier, Mutter Lehrerin). Oder man überbrückt die soziale Kluft zwischen der meist kleinbürgerlichen Herkunft des Filmemachers und derer der Figuren zusätzlich mit einem dann gerne distanzlosen Verbrüderungsgestus, wie Ken Loach (Vater Elektriker, Loach dann aber Oxford) es auf etwas ermüdende Weise in seinen Filmen vormacht.

Seltener, aber auch möglich: Man lädt den ansonsten typischerweise schmucklosen Sozialrealismus magisch auf (schöne Beispiele dafür sind der semi-dokumentarische Bombay Beach oder, stärker noch, Beasts of the Southern Wild). Das erweitert nicht nur die filmischen Möglichkeiten, sondern auch die der Figuren, die nun tendenziell von passiven Objekten und Opfern der Umstände zu Handelnden werden. Oder auch zu Helden, wie der Held in Boy Swallows Universe, der Serialisierung des semi-autobiografischen Romans des Journalisten und Schriftstellers Trent Dalton. Aus der Semi-Autobiografie wird hier etwas Semi-Realistisches, das immer wieder ins Fantastische ausschert. Oder ins Unplausible, das so unwahrscheinlich ist, dass es das Fantastische sanft berührt.

Collee, Trenton, Boy Swallows Universe
Travis Fimmel, Lee Tiger Halley, Phoebe Tonkin, Felix Cameron

Mitte der Achtzigerjahre, der 13-jährige Eli (ebenfalls fantastisch: Felix Cameron) lebt mit seiner Mutter Frances (Phoebe Tonkin) und seinem Stiefvater Lyle (Travis Fimmel) in Brassall, einem runtergekommenen Vorort im australischen Queens. Das volle Programm, Armut, Verletzungen, Vernachlässigungen, Verbrechen: Der leibliche Vater hat Eli und seinen seitdem stummen Bruder Gus (Lee Tiger Halley) mittels Autonunfall traumatisiert, Lyle dealt mit Drogen, gerät in einen Bandenkrieg und wird entführt, Frances war drogenabhängig und muss wegen Dealerei für fünf Jahre in den Knast, Elis bester erwachsener Freund stirbt. Es geht Schlag auf Schlag, und schon in Daltons Roman werden die verbrieften Elends-Eckdaten – der Ort des Geschehens, das Dealen der Eltern, der alkoholkranke leibliche Vater, aber auch, kein Elend, die Freundschaft mit dem legendären australischen Ausbrecher Arthur „Slim“ Halliday, der von Elis Babysitter zu seinem Mentor wird – verbunden mit Traum, Unwahrscheinlichkeit und fantastischen Versatzstücken.

Im Keller von Elis Haus findet sich ein Escape Room mit einem roten Telefon, das klingelt, obwohl es nirgendwo angeschlossen ist. Gus vermutet, dass aus dem Hörer eine Stimme aus der Zukunft kommt, und zwar seine eigene. In Träumen segeln die beiden in einem Auto durchs Weltall. Und während seiner Suche nach dem entführten Lyle wird der zwölfjährige Eli zu einem Helden, der seine Bullies abwehrt, in Bandenkriege verwickelt wird und eigentlich immer das Richtige tut und sagt.

Beim Sehen wirkt diese Coming-of-Age-Geschichte in ihrem beständigen Wechsel zwischen Realismus und Fantastik, der auch noch maximiert wird durch abrupte Sprünge zwischen den Affektregistern, hin und her zwischen Komik, Drama und gangster movie, ziemlich erratisch. In der hohen Wechselfrequenz überträgt sich wenig Figurenemotion auf Zuschauerin und Zuschauer. Das kann man, wie etwa der britische Guardian, als „tonale Elastizität“ wahrnehmen und werten oder als ungutes narratives Chaos.

Vielleicht aber entwickelt die Serie, mehr noch als die weitaus düsterere Romanvorlage, schlicht eine auf einer anderen Ebene dann wieder sehr konsistente Mischung von Realismus und Fantastik. Boy Swallows Universe wird erzählt aus den Augen eines Kindes, inklusive Voice-Over-Monologen. In dieser kindlichen Wahrnehmung sind das Fantastische, die Phantasie, der Traum (auch wenn er aus dem Trauma kommt), das Zeichnen, das Schreiben, das Geschichtenerzählen und die Musik das, was einen von der Welt, dem Schmerz und den Erwachsenen, auf die man sich nicht verlassen kann, graduell ablöst und was in die Zukunft weist. Es wird so schön werden, dass du nicht mehr erinnern wirst, wie schlimm es einmal war, ist ein mehrmals gesagter Satz, als Beruhigung, aber auch als Versprechen.

Das lyrische Ich in Daltons Roman spricht bereits wie ein Journalist, der parallel eine Schriftstellerkarriere einschlagen wird. Was einen in der Weltkonstruktion von Boy Swallows Universe (und so lange eine Erlösung der Welt in einem politischen Sinne ausbleibt) vor der weitgehend unerträglichen Wirklichkeit rettet, sind das Fabulieren, das Unwahrscheinliche und das Schreiben, also das Neuerzählen der Welt und ihre vielleicht hilflose, aber dann doch immer wieder traumhaft schöne, allen, auch den größten Versagern in Liebe zugewandte Verwandlung im und durch den Text und das Bild. Und nicht Ken Loach, und Pier Paolo Pasolini leider auch nicht.

 

Boy Swallows Universe
Australien 2024, Regie Jocelyn Moorhouse, Bharat Nalluri, Kim Mordaunt
Drehbuch John Collee, basierend auf dem Roman von Trent Dalton
Mit Felix Cameron, Phoebe Tonkin, Travis Fimmel, Bryan Brown, Lee Tiger Halley, Simon Baker, Anthony LaPaglia, Sophie Wilde
Laufzeit 404 Minuten in 7 Episoden
Netflix