„Physical“: Die unterschätzte Serie rückt eine Profiteurin des Aerobic-Booms der 1980er Jahre ins Zentrum. Die von Rose Byrne fabelhaft gespielte Heldin ist von Selbsthass getrieben – auf Apple TV+.
Es gibt eine Szene in Physical, da masturbiert die Heldin öffentlich in einem Einkaufzentrum. Niemand sieht sie. Nur die Kamera. Die Szene ist bezeichnend für eine Serie, die sich mit der Welt des Reagan-Konsumismus auseinandersetzt – mit gleichermaßen viel dunklem Humor und bonbonfarbener Härte.
Einer der Vorzüge dieser unterschätzten Serie von Annie Weisman (Desperate Housewives) ist ihre konsequente Weigerung, sympathisch sein zu wollen. Dirigiert wird die schwarze Komödie über eine Hausfrau in San Diego, die gleichzeitig Aerobic und den Kapitalismus für sich entdeckt, von Rose Byrnes Sheila Rubin und ihrer üppigen Dauerwelle und einem Stachel aus Selbsthass. Sheila hat ihre Gründe dafür, und das macht es nicht immer einfach, Physical anzuschauen; aber es macht sie auch menschlich auf eine Weise, mit der viele Zuseherinnen sich identifizieren können. Sie ist eine Frau, die in der Erwartung von Perfektion gelebt und ihre Wünsche für alle um sie herum aufgegeben hat.
Millionen amerikanischer Frauen zwängten sich Anfang der Achtziger in hautenge Leggings und verfielen dem Aerobic-Wahn. So auch die pflichtbewusste Ehefrau und Mutter Sheila in der Ära von Ronald Reagan. Zu Beginn von Physical findet sie nur dann Erfüllung, wenn sie ihre Hüpfgymnastik als Exorzismus betrachtet. Sheila hat ein tiefsitzendes Kindheitstrauma, das sie immer wieder in ein schäbiges Motelzimmer führte, wo sie heimlich Hamburger in sich hineinstopfte, um sie dann wieder rauszukotzen.
Nun in der dritten und letzten Season gesellt sich Kelly (Zooey Deschanel) an Sheilas Seite. Als erfolgreiche Fitnessgöttin und sexy Südstaaten-Schönheit wird Kelly zu einer Rivalin und spöttischen Stimme in Sheilas Kopf. Diese innere Stimme war allerdings immer schon da und ist so stark, dass es sich fast um eine eigenständige Figur in der Serie handelt. Sie war auch schon da, als Sheila sich anfangs zum ersten Mal abfällig im Spiegel betrachtet und sich gefragt hat: „Glaubst du wirklich, dass du das schaffst? Der Disco-Sex-Kätzchen-Look in deinem Alter? Du täuschst niemanden mit diesem Bullshit.“ Seitdem hat sie versucht, die unheilvolle Stimme zu bändigen, hat die Idee für ein Fitnessvideo von einer anderen Frau (Della Saba) gestohlen, hat ihre Ehe mit Danny (Rory Scovel) begraben, hat es sich mit ihrer besten Freundin Greta (Dierdre Friel) verscherzt, kurzfristig einen Mentor in Murray Bartletts Aerobic-Hengst Vinnie gefunden, eine Affäre mit einem mormonischen Immobilien-Mogul (Paul Sparks) begonnen, ist einer Selbsthilfegruppe für Essstörungen beigetreten, und ist zum skrupellosen Star der Aerobic-Branche der 1980er avanciert, den uns die Serie von Anfang an versprochen hatte. Sie will ihre eigene TV-Show, ein Franchise, Aerobic-Studios im ganzen Land und das dazu passende Merchandising.
Doch mit Gesundung und Erfolg gehen oft auch Rückschläge einher. Während Sheila mehrfach betont, dass Aerobic sie gerettet habe, wird immer klarer, dass es sich nur um ein Pflaster für ihre Wunde handelt. Und obwohl ihre Gedanken in der Serie immer schon finster waren, ist es beängstigend zu sehen, wie sie die physische Form einer köstlich hinterhältigen Zooey Deschanel annehmen, die im Südstaatenakzent Sätze auswirft wie „Nur hässliche Menschen müssen bezahlen, um ins Fernsehen zu kommen“. Deschanel spielt nicht nur die Version der Rivalin in Sheilas Halluzinationen, sondern auch die echte Frau, die unter den blondierten Locken, Push-up-BHs und ultrakurzen Shorts lauert.
Vom Ton her bleibt Physical sich auch in der letzten Season treu. Die Serie zeigt die unglamourösen Momente der Achtziger-Fitnesskultur, die den Samen für die Monetarisierung von Wellness gesetzt hat. Süße Kekse hegen falsche Versprechen ohne Kalorien. TV-Fitness-Gurus verkaufen Lügen zum Frühstück. Farbenfrohe Garderobe und ein Soundtrack mit Eighties-Hymnen von Depeche Mode, Duran Duran und Bonnie Tyler inklusive.
Physical schreibt aber eben auch eine universellere Geschichte der emotionalen Bedürfnisse, die durch das Hüpfhobby befriedigt, und der schwierigen Wahrheiten, die dadurch bewältigt werden sollen. Unter den hohen Knien und Hüftkreisen herrschen Gemeinschaftsgefühl, Kontrolle und das Geschäft mit dem weiblichen Körper. Einmal spricht Sheila offen über ihre Bulimie und sagt: „Ich vermisse es, schrecklich zu mir selbst zu sein.“ Ohne den Schmerz, den sie sich selbst zufügt, scheint sie immer noch nicht zu wissen, wer sie ist. Mir ist keine Comedy in der Streaming-Landschaft bekannt, die das so unverschämt ehrlich darstellt. Und das ist zum großen Teil der großartigen Rose Byrne zu verdanken.